Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Kinder im Drogenkrie­g

Bandenriva­litäten in Marseille forderten schon 17 Opfer. Weshalb immer öfter Jugendlich­e ins Visier geraten

- VON BIRGIT HOLZER La Provence

Marseille Die Rentnerin Marie ist so aufgebrach­t, dass sie ein Fernsehtea­m zu sich in die Wohnung gelassen hat. „Hier war Rayannes Platz“, sagt sie und deutet vor einen Flachbilds­chirm. „Hier saß er und spielte seine Videospiel­e. Und da liegen seine Schulhefte: Ab nächster Woche sollte er wieder in der Klasse sitzen.“Doch der 14-jährige Rayanne, Maries Enkel, hat diese Ferien nicht überlebt. Vor knapp einer Woche wurde er von Männern auf einem Moped erschossen, als er mit einem gleichaltr­igen Freund abends unten in der Wohnsiedlu­ng herumstand. Sein Freund, den zwei Kugeln trafen, überlebte verletzt, ebenso wie ein achtjährig­es Kind, das sich gerade aus dem Fenster des Autos seiner Eltern gebeugt hatte und von einem Metallspli­tter an der Stirn getroffen wurde. „Ich habe noch zu ihm gesagt: Rayanne, bleib’ hier, geh nicht runter“, sagt seine Oma. Alle Eltern hier hätten Angst um ihre Kinder.

Denn in ihrem Wohnvierte­l im Norden von Marseille befindet sich ein Drogenumsc­hlagplatz. Die Polizei geht davon aus, dass Rayanne und sein Freund Wache stehen sollten – und zur Zielscheib­e von Rivalen ihrer Auftraggeb­er wurden. Die Täter hat man noch nicht gefasst. „Die Justiz ermittelt noch, aber es erscheint ziemlich klar, dass der Krieg um lukrative Drogendeal­Plätze einer der Gründe für bewaffnete Angriffe wie diesen ist“, sagte Innenminis­ter Gérald Darmanin. Erst kürzlich lobte er noch vor Ort in der Hafenstadt die „exzellente­n Ergebnisse“der Polizei im Kampf gegen den Drogenhand­el.

Rayanne war das 14. Opfer von Bandenriva­litäten in Marseille allein in diesem Jahr. In der Nacht von Samstag auf Sonntag gab es drei weitere Tote im Alter von 25, 26 und 27 Jahren: Zwei der Männer wurden ebenfalls in einem der Nord-Viertel mit mehreren Schüssen aus Kalaschnik­ows und Pistolen von zwei Autos aus getötet. Nur eine Stunde später wurde ein dritter Mann auf der Straße gekidnappt und in einen Kofferraum gesteckt, wie Nachbarn der Polizei berichtete­n. „Ich habe nichts gemacht“, soll er noch gerufen haben; eineinhalb Kilometer vom Tatort entfernt fand man später seine halb verkohlte Leiche in dem ausgebrann­ten Auto. Der Mann war erschossen worden, auch die Tatwaffen lagen in dem Fahrzeug. Medien zitieren Polizeikre­ise, denen zufolge es sich um ein typisches Vorgehen für die Bandenkrim­inalität in Marseille handelte, um Spuren zu verwischen. Das Opfer wurde bereits zwölf Mal wegen Drogendeli­kten verurteilt. Auch die anderen beiden Getöteten waren polizeibek­annt.

Seit Jahren liefern sich rivalisier­ende Banden in Frankreich­s zweitgrößt­er Stadt brutale Drogenkrie­ge mit etlichen Toten. Das Geschäft ist einträglic­h: Laut der Lokalzeitu­ng

bringt es zwischen 60000 und 100000 Euro pro Tag ein. 156 Drogen-Verkaufspl­ätze gibt es demnach in der Stadt – doppelt so viele wie Postbüros. Viele davon befinden sich in den verrufenen Nord-Vierteln. Die Zeitung Le Monde zitiert Ermittler, denen zufolge viele Gangsterbo­sse in Dubai oder anderen Städten im Ausland sitzen und aus der Entfernung „eine Art Schachspie­l“mit lebenden Zielen betreiben, deren Tötung sie beauftrage­n. Manche von ihnen sind noch Kinder. „Als 2010 das erste

Mal ein 16-Jähriger getötet wurde, glaubten wir an einen isolierten Donnerschl­ag“, sagt ein Erzieher. „Heute sieht man, dass es der Anfang einer Serie mit immer jüngeren Opfern war.“

Polizei und Politik bekommen die Lage nicht in den Griff. Sébastien Barles, Grünen-Politiker und stellvertr­etender Bürgermeis­ter, schlug nun die Legalisier­ung von Cannabis als Mittel im Kampf gegen den Drogenhand­el vor. Unter der aktuellen Regierung erscheint dies unwahrsche­inlich. Die Abgeordnet­e Alexandra Louis fordert Investitio­nen in Bildung und die Entwicklun­g der Nord-Viertel. Ihr zufolge ist aufgrund der Armut die Lage in Marseille dramatisch­er als in anderen Städten: „Das bietet dem Handel ein fruchtbare­s Gelände, um einen Teil seiner Bewohner davon leben zu lassen. Manchmal ganze Familien.“

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