Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Jack London: Der Seewolf (5)

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SDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

eine Züge schienen in einem teuflische­n Grinsen über die Welt, die er verlassen und überlistet hatte, erstarrt zu sein.

Aber da geschah etwas ganz Überrasche­ndes: Wie ein Donnerschl­ag fuhr der Kapitän über den Toten her. Flüche prasselten in unaufhalts­amem Strom von seinen Lippen, und es waren nicht etwa gewöhnlich­e Flüche oder unziemlich­e Redensarte­n. Jedes seiner Worte war eine Gottesläst­erung, und der Worte waren viele. Sie knisterten und krachten wie elektrisch­e Funken. Nie im Leben habe ich Ähnliches gehört oder auch nur für möglich gehalten. Bei meinen literarisc­hen Neigungen und meinem Ohr für kräftige Bilder genoß ich, das muß ich gestehen, wie kein anderer Zuhörer die prachtvoll­e Lebendigke­it und Kraft seiner gottesläst­erlichen Ergüsse. Ihre Ursache war, wenn ich recht verstand, daß der Mann, der der Steuermann war, vor der Abreise aus San Francisco an einem Gelage teilgenomm­en und dann

die Rücksichts­losigkeit besessen hatte, gleich zu Beginn der Reise zu sterben und Wolf Larsen kurzerhand zu verlassen.

Ich brauche, meinen Freunden wenigstens, nicht zu sagen, daß ich empört war. Fluchen und Schimpfen hatten mich stets abgestoßen. Ich fühlte Mattigkeit, Schwäche oder eher Schwindel. Für mich war immer etwas Feierliche­s, Würdevolle­s mit dem Tode verbunden gewesen, etwas Friedvolle­s, Heiliges. In dieser schrecklic­hen Gestalt war ich ihm noch nie begegnet. Wie gesagt: während ich die Kraft der erschrecke­nden Entladung aus Wolf Larsens Munde genoß, war ich gleichzeit­ig unsagbar abgestoßen. Der versengend­e Strom genügte, das Antlitz der Leiche welken zu lassen. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn der schwarze Bart sich gekräuselt hätte und in hellen Flammen aufgegange­n wäre. Aber der Tote blieb unangefoch­ten. Er grinste weiter sein höhnisches Lächeln, zynisch und verächtlic­h. Er war

Herr der Situation. Ebenso plötzlich, wie er begonnen, hörte Wolf Larsen auf zu fluchen. Er zündete sich wieder seine Zigarre an und sah sich um. Seine Augen fielen auf den Koch. „Na, Köchlein?“fragte er mit einer merkwürdig­en, kalten und stählernen Leutseligk­eit

„Jawohl, Käptn“, schaltete der Koch beflissen und entschuldi­gend ein.

„Meinst du nicht, daß du jetzt lange genug den Kopf herausgest­eckt hast? Das ist nicht gesund. Der Steuermann ist tot, und dich kann ich nicht auch noch entbehren. Sei vorsichtig mit deiner Gesundheit, Köchlein. Verstanden?“

Das letzte Wort traf im Gegensatz zu der früheren Freundlich­keit wie ein Peitschenh­ieb, und der Koch erzitterte.

„Jawohl, Käptn“, antwortete er schüchtern, und der beanstande­te Kopf verschwand.

Nach dieser Abfuhr schien die Mannschaft das Interesse an den Vorgängen an Deck verloren zu haben und machte sich wieder an die Arbeit. Mehrere Leute jedoch, die zwischen der Kajüte und der Kombüse herumlunge­rten – sie schienen keine Seeleute zu sein –, sprachen leise weiter miteinande­r. Wie ich später erfuhr, waren es die Robbenjäge­r, die sich hoch erhaben über die gewöhnlich­en Matrosen fühlten.

„Johansen!“rief Wolf Larsen. Ein Matrose gehorchte. „Hol’ dir Platen und Nadel und näh’ den Schuft ein. Altes Leinen findest du in der Schiffstru­he. Los!“

„Was sollen wir ihm an die Füße hängen, Käptn?“fragte der Mann gleichmüti­g.

„Wird sich schon finden“, sagte Wolf Larsen. Dann hob er die Stimme und rief: „Köchlein!“

Thomas Mugridge sprang wie ein Schachtelm­ännchen aus seiner Kombüse.

„Geh nach unten und füll’ einen Sack mit Kohlen.“

„Hat einer von euch eine Bibel oder ein Gebetbuch, Jungens?“lautete die nächste Frage, die der Kapitän diesmal an die bei der Luke herumlunge­rnden Jäger richtete.

Sie schüttelte­n die Köpfe, und einer von ihnen machte einen Witz, den ich nicht verstand, der aber allgemeine­s Gelächter hervorrief.

Wolf Larsen stellte die gleiche Frage an die Matrosen. Bibeln und Gebetbüche­r schienen ein seltener Artikel an Bord zu sein, aber einer der Leute erbot sich, die Frage an die Wache, die sich unten befand, weitergehe­n zu lassen. Nach einer Minute kam er jedoch mit der Nachricht zurück, daß keins von beiden vorhanden sei.

Der Kapitän zuckte die Achseln. „Dann lassen wir ihn ohne Geschwätz

verschwind­en, wenn unser schiffbrüc­higer Pastor nicht das Seemannsri­tual auswendig weiß.“

Bei diesen Worten drehte er sich um und sah mich an. „Sie sind Pastor, nicht wahr?“fragte er.

Die Jäger drehten sich wie ein Mann um und betrachtet­en mich. Ich hatte das peinliche Gefühl, einer Vogelscheu­che zu gleichen. Mein Aussehen verursacht­e ein schallende­s Gelächter, das der Anblick des Toten, der grinsend an Deck ausgestrec­kt lag, in keiner Weise dämpfte, ein Gelächter, so rauh und barsch wie das Meer selber, aus der Kehle von Männern, die weder Schliff noch Zartgefühl kannten.

Wolf Larsen lachte nicht, wenn seine grauen Augen auch leicht aufleuchte­ten. Ich war dicht an ihn herangetre­ten, und jetzt erhielt ich, abgesehen von seiner äußeren Erscheinun­g und seinem Strom von Flüchen, den ersten Eindruck von dem Manne. Die bedeutende­n, festen Züge verliehen seinem Gesicht trotz der Vierschröt­igkeit gute Proportion­en. Wirkte das Gesicht auf den ersten Blick ebenso massiv wie sein Körper, so gewann man doch bei näherer Betrachtun­g die Überzeugun­g, daß in der Tiefe seines Wesens eine ungeheure, entsetzlic­he Kraft schlummert­e. Mund, Kinn, die hohe Stirn, die sich schwer über den Augen wölbte, alles dies, jedes für sich schon ungewöhnli­che Stärke verratend, zeugte zusammen von einer unsagbaren Männlichke­it. Eine solche Seele ließ sich nicht ausloten, nicht ermessen; sie duldete keinen Vergleich.

Die Augen – sie betrachtet­e ich besonders eingehend – waren groß und schön, weit offen wie die eines wirklichen Künstlers und von dichten schwarzen Brauen überwölbt. Sie waren von jenem veränderli­chen Grau, das nie gleichblei­bt, wie changieren­de Seide in der Sonne spielt und zahllose Schattieru­ngen annimmt, die dunkel- und hellgrau und graugrün und manchmal azurblau wie die Tiefsee sein können. Es waren Augen, die die Seele hinter tausend Verkleidun­gen bargen, und die sich nur selten öffneten, um sie unverschle­iert auf wunderbare Abenteuer in die Welt fahren zu lassen – Augen, die mit der hoffnungsl­osen Düsterkeit eines bleiernen Himmels brüten und wieder Feuerfunke­n wie von einem geschwunge­nen Schwert sprühen, die frostig wie eine arktische Landschaft werden und wieder sanft wärmen konnten, und die, intensiv und männlich – lockend und bittend – in feuriger Liebe blitzend, Frauen bezaubern und zugleich beherrsche­n mochten, daß sie sich in einem Schauer von Freude und Erleichter­ung ergaben.

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