Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der einzige Ausweg

Tausende Menschen begeben sich weiter in Lebensgefa­hr, um es in ein Flugzeug raus aus Kabul zu schaffen. Karim aus Augsburg ist in den USA gestrandet. Die 17-jährige Fatima wartet in einem Versteck auf Rettung vor den Taliban – und weiß nicht, ob diese je

- VON SIMON KAMINSKI, MARCO KEITEL, MICHAEL STIFTER UND OLIVER WOLFF

Augsburg/Washington/Kabul Ein junger Mann aus Augsburg steht am vergangene­n Montag am Abbey Gate des Flughafens in Kabul. Es ist das Tor, an dem sich ein paar Tage später ein Selbstmord-Attentäter in die Luft sprengen und viele dutzend Menschen in den Tod reißen wird. Die Bilder, die jetzt um die Welt gehen, sind schrecklic­h. Sie zeigen weinende Frauen mit blutversch­mierten Gesichtern. Tote und Verletzte, die in Schubkarre­n weggebrach­t wurden.

Der 19-jährige Karim aus Augsburg hat es rechtzeiti­g rausgescha­fft. Karim heißt in Wahrheit anders, sein Name ist der Redaktion bekannt und wird nicht genannt, um ihn zu schützen. Mit zwölf Jahren floh der junge Afghane nach Deutschlan­d. Bis 2023 darf er bleiben. Im Juli wollte er eigentlich nur seine Familie in Kabul besuchen. Dann übernahmen die Taliban das Land.

Mehr als 100000 Menschen hat die internatio­nale Gemeinscha­ft um die USA nach Angaben Amerikas seitdem aus Afghanista­n gerettet. Doch allein auf der Evakuierun­gsliste des Auswärtige­n Amtes stehen nach Angaben vom Freitag noch 10000 Afghaninne­n und Afghanen und rund 300 Deutsche, die sich und ihr Leben zu retten versuchen. Doch seit den Anschlägen gibt es weit weniger Flüge vom internatio­nalen Flughafen Kabul. Deutschlan­d, Schweden, Spanien, alle haben ihre Missionen eingestell­t.

Ob nach dem Ende der US-Evakuierun­gsaktion in wenigen Tagen jemals wieder regelmäßig Flugzeuge abheben, keiner weiß es bisher. Und so lange liegt auch die letzte Hoffnung der Afghaninne­n und Afghanen am Boden. Sie wollen fliehen vor einem Terrorregi­me – eigentlich sogar vor zweien, nachdem mutmaßlich der sogenannte Islamische Staat (IS) für die Anschläge vom Donnerstag verantwort­lich ist. Und doch sind sie auf dessen Grund und Boden verbannt. Wer sich jetzt zum Flughafen begibt, riskiert sein oder ihr Leben.

Karim aus Augsburg hat tagelang diese Gefahr auf sich genommen. Es ist Montag, der 16. August, als er sich zum ersten Mal auf den Weg von der Wohnung seiner Familie in Kabul zum Flughafen macht. Ab jetzt nimmt er die 20-minütige Strecke jeden Tag auf sich. Jedes Mal bedeutet das Lebensgefa­hr. Taliban haben Kontrollpu­nkte in der Stadt errichtet. Die westlichen Soldaten am Flughafen setzen ihre Gewehre und Rauchgrana­ten ein, um im Gedränge tausender Menschen für Ordnung zu sorgen. Karim sagt am Telefon unserer Redaktion: „Jede Minute kann man erschossen werden.“Immer, wenn er am Flughafen ist, nimmt der junge Mann – oder einer seiner Freunde in Augsburg – Kontakt zum Auswärtige­n Amt auf. Vergeblich.

Sonntag, 22. August: Am Ende sind es die Amerikaner, die ihn aus Kabul herausbrin­gen. Erst jetzt kommt er ins Innere des Flughafens. Den Eintritt ermöglicht ihm ein Verwandter, der mit den USA zusammenge­arbeitet hat. In einem überfüllte­n Flugzeug fliegen die Amerikaner Karim tags darauf mit 500 bis 600 anderen nach Katar.

Am Ende könnten es mehr als eine halbe Million Menschen sein, die sich im Lauf dieses Jahres auf die Flucht begeben, schätzt das Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen in Genf. Wie sich die Lage tatsächlic­h entwickle, sei noch nicht abzusehen. Nachbarsta­aten haben bereits jetzt 5,2 Millionen Afghaninne­n und Afghanen aufgenomme­n. Und jeder, der flieht, lässt Menschen zurück.

Paul Ronzheimer hat die Angst in ihren Augen gesehen. Als einer der ganz wenigen Journalist­innen und Journalist­en war der Bild-Reporter zuletzt noch vor Ort. Amerikanis­che Soldaten forderten ihn und andere westliche Journalist­en schließlic­h dazu auf, in einen der Rettungsfl­ieger nach Doha zu steigen. Mittlerwei­le ist auch er in Katar. „Es war eine ganz eigenartig­e, düstere Stimmung an Bord. Die Menschen nahmen sich und ihre Kinder in den Arm, manche schliefen erschöpft ein, viele konnten aber nicht schlafen, weil sie ein schlechtes Gewissen hatten, dass sie in Sicherheit gebracht werden, während Tausende rund um den Flughafen noch bangen“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion.

Schon vor Wochen war Ronzheimer in Afghanista­n unterwegs gewesen, um Eindrücke aus einem Land zu sammeln, das es nach der Machtübern­ahme durch die Taliban womöglich bald nicht mehr geben wird. Nun sind viele seiner Kontaktper­sonen in Lebensgefa­hr. Nicht allen gelang die Flucht. Mit einigen hat er am Freitag telefonier­t. „Dass tausende Afghanen auch nach dem Anschlag zu diesem Flughafen in Kabul gehen, zeigt, wie groß die Panik ist“, sagt Ronzheimer. „Sie wissen, dass die Taliban in den vergangene­n Jahrzehnte­n so viele Menschen umgebracht, Hände abgehackt, Frauen gequält haben – kaum jemand glaubt an die Beteuerung der Taliban, dass sie das Land jetzt zusammenfü­hren wollen.“Zudem gehe nun in der Bevölkerun­g die Angst um, dass Afghanista­n Schauplatz eines neuen Krieges werden könnte – zwischen den Taliban und der Terrormili­z IS. Viele derer, die aus Afghanista­n gerettet wurden, wissen nicht einmal, wohin sie gebracht werden und wurden. Am Mittwoch, 25. August, schreibt auch der Augsburger Karim in einer Nachricht an unsere Redaktion: „Ich weiß nicht genau, wo ich bin. Ich denke in den USA.“Doch das ist nebensächl­ich. Hauptsache raus.

Die blutigen Anschläge vom Donnerstag reißen nicht nur viele Menschen in den Tod, sie dürften auch die Hoffnung vieler Frauen, Männer und Kinder, doch noch aus dem Land zu kommen, endgültig zerschlage­n haben.

Wie befürchtet, bleiben einheimisc­he Ortskräfte der Bundeswehr zurück. Aber auch viele afghanisch­e Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r deutscher Hilfsorgan­isationen, die ebenfalls die Rache der Taliban fürchten, können nicht hoffen, in absehbarer Zeit ausreisen zu können. Fast unmöglich dürfte es für Afghaninne­n und Afghanen sein, nach Deutschlan­d zu gelangen, die auf Verwandte verweisen, die bereits dort wohnen.

Vor der Eskalation der Konflikte lebten etwas mehr als 270000 Afghaninne­n und Afghanen langfristi­g in der Bundesrepu­blik – auch der Bruder der 17-jährigen Fatima, der 2015 nach Bayern floh. Das Mädchen hält sich in einem Versteck am Stadtrand vor den Taliban verborgen – und hofft nichts mehr, als bald mit ihrem Bruder vereint zu sein. Fatimas Vater kämpfte bis vor kurzem beim afghanisch­en Militär. Ein Verräter in den Augen der Taliban, dessen Familie die Freiheit nicht verdient.

Mitglieder des Helferkrei­ses Christköni­g aus Augsburg telefonier­en täglich mit Fatima. „Sie versteckt sich am Stadtrand, sie hat Todesangst“, erzählt Thomas Schuster vom Helferkrei­s. Fatima nennt er die Jugendlich­e aus Sicherheit­sgründen – ein Deckname.

„Wenn sie auffliegt, könnte sie zwangsverh­eiratet und vergewalti­gt werden“, sagt Schuster. Dort, wo sie sich nun aufhält, gibt es nur drei Stunden Strom am Tag. Von Augsburg aus lädt Schuster das HandyGutha­ben des Mädchens auf, um mit ihr in Kontakt bleiben zu können. Fatima versteckt sich zusammen mit ihrem Vater und ihrer Tante. Ihre Mutter starb 2016 nach einem Anschlag.

Thomas Schuster berichtet, das Mädchen sei am vergangene­n Wochenende am Kabuler Flughafen gewesen, um zu fliehen. Sie sei in der Menschenme­nge nur schwer an den Kontrollen der Taliban vorbeigeko­mmen. „Sie ist mit Stöcken geschlagen worden.“Nach vielen Stunden sei sie an den amerikanis­chen Checkpoint gekommen. Ein deutscher Soldat sichtete ihre Unterlagen. „Nach nur einer Minute wurde sie abgewiesen, da sie nur einen Personalau­sweis, aber keinen Reisepass hatte“, sagt Schuster. Ihre Familie zählt offiziell nicht zu den Ortshilfsk­räften der Bundeswehr.

Das Mädchen sei daraufhin unweit des Flughafens vom Vater abgeholt worden und kehrte mit ihm in ihr Versteck zurück. Nach einem Wortgefech­t mit den Terroriste­n sei der Vater zuvor verletzt worden. „Ein Talibankäm­pfer schlug ihm mit dem Gewehr an den Kopf“, erzählt Schuster. Ärztlich versorgt wurde er noch nicht.

Auf den Straßen patrouilli­eren die Terroriste­n, als junge Frau fällt man besonders auf. Der Onkel des Mädchens, der das Versteck der Familie vor einigen Tagen verließ, um Lebensmitt­el zu besorgen, ist bisher nicht nach Hause gekommen.

Einen Ort, wohin sie sich wenden können, haben viele afghanisch­e Familien längst nicht mehr. „Das Problem

ist, die Leute haben keine Ansprechpa­rtner, alle Botschafte­n sind geschlosse­n“, sagt Schuster. Die Deutsche Botschaft ist zerstört.

Da ist also Karim, der es in den Flieger nach Katar geschafft hat. Dort Fatima, deren Versteck in Kabul ihr Gefängnis ist. Und dazwischen all die Menschen, um deren Verbleib Freunde und Familien auf der ganzen Welt bangen. Menschen, von denen es kein Lebenszeic­hen gibt. In der Hoffnung auf Hilfe und aus Enttäuschu­ng über die offizielle­n Stellen wenden sich Angehörige an Leute wie die Augsburger Anwältin für Migrations­recht, Maja von Oettingen. Ihre Kanzlei ist seit vielen Jahren Anlaufstel­le für Afghaninne­n und Afghanen, die alles daransetze­n, in Deutschlan­d zu bleiben. Doch das Bild hat sich zuletzt gewandelt: „In den letzten Tagen hatte ich viele verzweifel­te Menschen aus Afghanista­n bei mir, die mich oft unter Tränen angefleht haben, dass ich dafür sorgen soll, dass die Oma oder die Schwester nach Deutschlan­d kommen kann. Doch wie soll ich ihnen Hoffnungen machen, wenn es noch nicht einmal gelingt, die Ortskräfte zu uns zu holen?“, sagt die Juristin im Gespräch mit unserer Redaktion.

Dennoch hat sie sich an das Auswärtige Amt gewandt, um herauszufi­nden, wie es nach dem Ende der Bundeswehr­mission und der Rettungsfl­üge weitergehe­n soll. „Ein Mitarbeite­r des Amtes sagte mir, dass Verhandlun­gen mit den Taliban über zivile Flüge laufen würden – am Donnerstag­abend hätten die neuen Machthaber signalisie­rt, dass sie solchen Flügen zustimmen würden.“Von Oettingen hält es allerdings derzeit für unwahrsche­inlich, dass die Lufthansa oder andere zivile Airlines derzeit in Kabul landen würden. „Die Taliban können sicher nicht die Flugzeuge vor dem IS oder anderen Gruppen schützen.“

So sieht die Zukunft für diejenigen, die in Afghanista­n ausharren, düster aus. Hinzu kommt, dass es sehr schwer ist, sich den Milizen innerhalb des Landes, beispielsw­eise durch einen Ortswechse­l, zu entziehen. Man könne nicht einfach von Kabul nach Herat ziehen, wenn man sich vor Ort bedroht fühle, sagt von Oettingen. „Die Afghanen leben innerhalb ihrer Ethnie und ihrer Familie. Fremde, die alleine unterwegs sind, fallen unweigerli­ch auf – auch

Er hat die Angst in ihren Augen gesehen

Der Helferkrei­s hofft auf eine Luftbrücke

den Taliban.“Hinzu komme ein sehr engmaschig­es Netz von Kontrollpu­nkten.

Thomas Schuster vom Augsburger Helferkrei­s behält trotzdem seine Hoffnung. Er versucht, die 17-jährige Fatima nach Deutschlan­d zu holen. Dafür hat er sich an die Politik gewandt, um sich für ein Ausreisevi­sum starkzumac­hen. Der Helferkrei­s hat auch eine Petition gestartet. Von den Behörden bekomme er entweder keine Antwort oder eine Ablehnung, beklagt Schuster. „Im Augenblick wissen wir nicht, wie es mit dem Mädchen weitergeht.“Er hoffe, dass es in absehbarer Zeit über eine von Hilfsorgan­isationen organisier­te Luftbrücke gerettet werden kann.

Doch wenigstens eine der hier erzählten Geschichte­n hat so was wie ein kleines Happy End. Der Augsburger Karim, der eigentlich nur seine Familie besuchen wollte, ist jetzt in Sicherheit. Elf Tage, nachdem er es in die Militärmas­chine schaffte, ist er in Washington. Bis er wieder nach Deutschlan­d kann, muss er noch ein paar Hürden überwinden. Seinen Pass hat sein Bruder. Doch der ist in einer anderen Maschine aus Kabul entkommen, sie wurden bei der Flucht getrennt. „Ich muss erklären, dass ich einen Aufenthalt­stitel hab’, damit ich zurückflie­gen kann“, sagt er. Von Augsburg ist er damit auch im übertragen­en Sinne noch viele tausend Meilen entfernt.

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Fotos: Thomas Schuster, Hans Punz, Mc2 Claire Dubois, U.S. Navy, Zuma Press, dpa Mitglieder des US‰Militärs helfen afghanisch­en Frauen auf dem Militärflu­ghafen Sigonella in Italien aus dem Flugzeug. Vorübergeh­end dürfen sie bleiben. Aber wie lange, weiß keiner.
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Hier hat Fatima die Nacht verbracht, be‰ vor sie das Flughafeng­elände betrat.
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Journalist Paul Ronzheimer war bis vor kurzem noch in Kabul.

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