Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Der einzige Ausweg
Tausende Menschen begeben sich weiter in Lebensgefahr, um es in ein Flugzeug raus aus Kabul zu schaffen. Karim aus Augsburg ist in den USA gestrandet. Die 17-jährige Fatima wartet in einem Versteck auf Rettung vor den Taliban – und weiß nicht, ob diese je
Augsburg/Washington/Kabul Ein junger Mann aus Augsburg steht am vergangenen Montag am Abbey Gate des Flughafens in Kabul. Es ist das Tor, an dem sich ein paar Tage später ein Selbstmord-Attentäter in die Luft sprengen und viele dutzend Menschen in den Tod reißen wird. Die Bilder, die jetzt um die Welt gehen, sind schrecklich. Sie zeigen weinende Frauen mit blutverschmierten Gesichtern. Tote und Verletzte, die in Schubkarren weggebracht wurden.
Der 19-jährige Karim aus Augsburg hat es rechtzeitig rausgeschafft. Karim heißt in Wahrheit anders, sein Name ist der Redaktion bekannt und wird nicht genannt, um ihn zu schützen. Mit zwölf Jahren floh der junge Afghane nach Deutschland. Bis 2023 darf er bleiben. Im Juli wollte er eigentlich nur seine Familie in Kabul besuchen. Dann übernahmen die Taliban das Land.
Mehr als 100000 Menschen hat die internationale Gemeinschaft um die USA nach Angaben Amerikas seitdem aus Afghanistan gerettet. Doch allein auf der Evakuierungsliste des Auswärtigen Amtes stehen nach Angaben vom Freitag noch 10000 Afghaninnen und Afghanen und rund 300 Deutsche, die sich und ihr Leben zu retten versuchen. Doch seit den Anschlägen gibt es weit weniger Flüge vom internationalen Flughafen Kabul. Deutschland, Schweden, Spanien, alle haben ihre Missionen eingestellt.
Ob nach dem Ende der US-Evakuierungsaktion in wenigen Tagen jemals wieder regelmäßig Flugzeuge abheben, keiner weiß es bisher. Und so lange liegt auch die letzte Hoffnung der Afghaninnen und Afghanen am Boden. Sie wollen fliehen vor einem Terrorregime – eigentlich sogar vor zweien, nachdem mutmaßlich der sogenannte Islamische Staat (IS) für die Anschläge vom Donnerstag verantwortlich ist. Und doch sind sie auf dessen Grund und Boden verbannt. Wer sich jetzt zum Flughafen begibt, riskiert sein oder ihr Leben.
Karim aus Augsburg hat tagelang diese Gefahr auf sich genommen. Es ist Montag, der 16. August, als er sich zum ersten Mal auf den Weg von der Wohnung seiner Familie in Kabul zum Flughafen macht. Ab jetzt nimmt er die 20-minütige Strecke jeden Tag auf sich. Jedes Mal bedeutet das Lebensgefahr. Taliban haben Kontrollpunkte in der Stadt errichtet. Die westlichen Soldaten am Flughafen setzen ihre Gewehre und Rauchgranaten ein, um im Gedränge tausender Menschen für Ordnung zu sorgen. Karim sagt am Telefon unserer Redaktion: „Jede Minute kann man erschossen werden.“Immer, wenn er am Flughafen ist, nimmt der junge Mann – oder einer seiner Freunde in Augsburg – Kontakt zum Auswärtigen Amt auf. Vergeblich.
Sonntag, 22. August: Am Ende sind es die Amerikaner, die ihn aus Kabul herausbringen. Erst jetzt kommt er ins Innere des Flughafens. Den Eintritt ermöglicht ihm ein Verwandter, der mit den USA zusammengearbeitet hat. In einem überfüllten Flugzeug fliegen die Amerikaner Karim tags darauf mit 500 bis 600 anderen nach Katar.
Am Ende könnten es mehr als eine halbe Million Menschen sein, die sich im Lauf dieses Jahres auf die Flucht begeben, schätzt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen in Genf. Wie sich die Lage tatsächlich entwickle, sei noch nicht abzusehen. Nachbarstaaten haben bereits jetzt 5,2 Millionen Afghaninnen und Afghanen aufgenommen. Und jeder, der flieht, lässt Menschen zurück.
Paul Ronzheimer hat die Angst in ihren Augen gesehen. Als einer der ganz wenigen Journalistinnen und Journalisten war der Bild-Reporter zuletzt noch vor Ort. Amerikanische Soldaten forderten ihn und andere westliche Journalisten schließlich dazu auf, in einen der Rettungsflieger nach Doha zu steigen. Mittlerweile ist auch er in Katar. „Es war eine ganz eigenartige, düstere Stimmung an Bord. Die Menschen nahmen sich und ihre Kinder in den Arm, manche schliefen erschöpft ein, viele konnten aber nicht schlafen, weil sie ein schlechtes Gewissen hatten, dass sie in Sicherheit gebracht werden, während Tausende rund um den Flughafen noch bangen“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion.
Schon vor Wochen war Ronzheimer in Afghanistan unterwegs gewesen, um Eindrücke aus einem Land zu sammeln, das es nach der Machtübernahme durch die Taliban womöglich bald nicht mehr geben wird. Nun sind viele seiner Kontaktpersonen in Lebensgefahr. Nicht allen gelang die Flucht. Mit einigen hat er am Freitag telefoniert. „Dass tausende Afghanen auch nach dem Anschlag zu diesem Flughafen in Kabul gehen, zeigt, wie groß die Panik ist“, sagt Ronzheimer. „Sie wissen, dass die Taliban in den vergangenen Jahrzehnten so viele Menschen umgebracht, Hände abgehackt, Frauen gequält haben – kaum jemand glaubt an die Beteuerung der Taliban, dass sie das Land jetzt zusammenführen wollen.“Zudem gehe nun in der Bevölkerung die Angst um, dass Afghanistan Schauplatz eines neuen Krieges werden könnte – zwischen den Taliban und der Terrormiliz IS. Viele derer, die aus Afghanistan gerettet wurden, wissen nicht einmal, wohin sie gebracht werden und wurden. Am Mittwoch, 25. August, schreibt auch der Augsburger Karim in einer Nachricht an unsere Redaktion: „Ich weiß nicht genau, wo ich bin. Ich denke in den USA.“Doch das ist nebensächlich. Hauptsache raus.
Die blutigen Anschläge vom Donnerstag reißen nicht nur viele Menschen in den Tod, sie dürften auch die Hoffnung vieler Frauen, Männer und Kinder, doch noch aus dem Land zu kommen, endgültig zerschlagen haben.
Wie befürchtet, bleiben einheimische Ortskräfte der Bundeswehr zurück. Aber auch viele afghanische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutscher Hilfsorganisationen, die ebenfalls die Rache der Taliban fürchten, können nicht hoffen, in absehbarer Zeit ausreisen zu können. Fast unmöglich dürfte es für Afghaninnen und Afghanen sein, nach Deutschland zu gelangen, die auf Verwandte verweisen, die bereits dort wohnen.
Vor der Eskalation der Konflikte lebten etwas mehr als 270000 Afghaninnen und Afghanen langfristig in der Bundesrepublik – auch der Bruder der 17-jährigen Fatima, der 2015 nach Bayern floh. Das Mädchen hält sich in einem Versteck am Stadtrand vor den Taliban verborgen – und hofft nichts mehr, als bald mit ihrem Bruder vereint zu sein. Fatimas Vater kämpfte bis vor kurzem beim afghanischen Militär. Ein Verräter in den Augen der Taliban, dessen Familie die Freiheit nicht verdient.
Mitglieder des Helferkreises Christkönig aus Augsburg telefonieren täglich mit Fatima. „Sie versteckt sich am Stadtrand, sie hat Todesangst“, erzählt Thomas Schuster vom Helferkreis. Fatima nennt er die Jugendliche aus Sicherheitsgründen – ein Deckname.
„Wenn sie auffliegt, könnte sie zwangsverheiratet und vergewaltigt werden“, sagt Schuster. Dort, wo sie sich nun aufhält, gibt es nur drei Stunden Strom am Tag. Von Augsburg aus lädt Schuster das HandyGuthaben des Mädchens auf, um mit ihr in Kontakt bleiben zu können. Fatima versteckt sich zusammen mit ihrem Vater und ihrer Tante. Ihre Mutter starb 2016 nach einem Anschlag.
Thomas Schuster berichtet, das Mädchen sei am vergangenen Wochenende am Kabuler Flughafen gewesen, um zu fliehen. Sie sei in der Menschenmenge nur schwer an den Kontrollen der Taliban vorbeigekommen. „Sie ist mit Stöcken geschlagen worden.“Nach vielen Stunden sei sie an den amerikanischen Checkpoint gekommen. Ein deutscher Soldat sichtete ihre Unterlagen. „Nach nur einer Minute wurde sie abgewiesen, da sie nur einen Personalausweis, aber keinen Reisepass hatte“, sagt Schuster. Ihre Familie zählt offiziell nicht zu den Ortshilfskräften der Bundeswehr.
Das Mädchen sei daraufhin unweit des Flughafens vom Vater abgeholt worden und kehrte mit ihm in ihr Versteck zurück. Nach einem Wortgefecht mit den Terroristen sei der Vater zuvor verletzt worden. „Ein Talibankämpfer schlug ihm mit dem Gewehr an den Kopf“, erzählt Schuster. Ärztlich versorgt wurde er noch nicht.
Auf den Straßen patrouillieren die Terroristen, als junge Frau fällt man besonders auf. Der Onkel des Mädchens, der das Versteck der Familie vor einigen Tagen verließ, um Lebensmittel zu besorgen, ist bisher nicht nach Hause gekommen.
Einen Ort, wohin sie sich wenden können, haben viele afghanische Familien längst nicht mehr. „Das Problem
ist, die Leute haben keine Ansprechpartner, alle Botschaften sind geschlossen“, sagt Schuster. Die Deutsche Botschaft ist zerstört.
Da ist also Karim, der es in den Flieger nach Katar geschafft hat. Dort Fatima, deren Versteck in Kabul ihr Gefängnis ist. Und dazwischen all die Menschen, um deren Verbleib Freunde und Familien auf der ganzen Welt bangen. Menschen, von denen es kein Lebenszeichen gibt. In der Hoffnung auf Hilfe und aus Enttäuschung über die offiziellen Stellen wenden sich Angehörige an Leute wie die Augsburger Anwältin für Migrationsrecht, Maja von Oettingen. Ihre Kanzlei ist seit vielen Jahren Anlaufstelle für Afghaninnen und Afghanen, die alles daransetzen, in Deutschland zu bleiben. Doch das Bild hat sich zuletzt gewandelt: „In den letzten Tagen hatte ich viele verzweifelte Menschen aus Afghanistan bei mir, die mich oft unter Tränen angefleht haben, dass ich dafür sorgen soll, dass die Oma oder die Schwester nach Deutschland kommen kann. Doch wie soll ich ihnen Hoffnungen machen, wenn es noch nicht einmal gelingt, die Ortskräfte zu uns zu holen?“, sagt die Juristin im Gespräch mit unserer Redaktion.
Dennoch hat sie sich an das Auswärtige Amt gewandt, um herauszufinden, wie es nach dem Ende der Bundeswehrmission und der Rettungsflüge weitergehen soll. „Ein Mitarbeiter des Amtes sagte mir, dass Verhandlungen mit den Taliban über zivile Flüge laufen würden – am Donnerstagabend hätten die neuen Machthaber signalisiert, dass sie solchen Flügen zustimmen würden.“Von Oettingen hält es allerdings derzeit für unwahrscheinlich, dass die Lufthansa oder andere zivile Airlines derzeit in Kabul landen würden. „Die Taliban können sicher nicht die Flugzeuge vor dem IS oder anderen Gruppen schützen.“
So sieht die Zukunft für diejenigen, die in Afghanistan ausharren, düster aus. Hinzu kommt, dass es sehr schwer ist, sich den Milizen innerhalb des Landes, beispielsweise durch einen Ortswechsel, zu entziehen. Man könne nicht einfach von Kabul nach Herat ziehen, wenn man sich vor Ort bedroht fühle, sagt von Oettingen. „Die Afghanen leben innerhalb ihrer Ethnie und ihrer Familie. Fremde, die alleine unterwegs sind, fallen unweigerlich auf – auch
Er hat die Angst in ihren Augen gesehen
Der Helferkreis hofft auf eine Luftbrücke
den Taliban.“Hinzu komme ein sehr engmaschiges Netz von Kontrollpunkten.
Thomas Schuster vom Augsburger Helferkreis behält trotzdem seine Hoffnung. Er versucht, die 17-jährige Fatima nach Deutschland zu holen. Dafür hat er sich an die Politik gewandt, um sich für ein Ausreisevisum starkzumachen. Der Helferkreis hat auch eine Petition gestartet. Von den Behörden bekomme er entweder keine Antwort oder eine Ablehnung, beklagt Schuster. „Im Augenblick wissen wir nicht, wie es mit dem Mädchen weitergeht.“Er hoffe, dass es in absehbarer Zeit über eine von Hilfsorganisationen organisierte Luftbrücke gerettet werden kann.
Doch wenigstens eine der hier erzählten Geschichten hat so was wie ein kleines Happy End. Der Augsburger Karim, der eigentlich nur seine Familie besuchen wollte, ist jetzt in Sicherheit. Elf Tage, nachdem er es in die Militärmaschine schaffte, ist er in Washington. Bis er wieder nach Deutschland kann, muss er noch ein paar Hürden überwinden. Seinen Pass hat sein Bruder. Doch der ist in einer anderen Maschine aus Kabul entkommen, sie wurden bei der Flucht getrennt. „Ich muss erklären, dass ich einen Aufenthaltstitel hab’, damit ich zurückfliegen kann“, sagt er. Von Augsburg ist er damit auch im übertragenen Sinne noch viele tausend Meilen entfernt.