Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Tödlicher Unfall einer Fußgängeri­n: Welche Schuld hat der Fahrer?

Ein 80-Jähriger übersieht eine 75-Jährige auf einem Supermarkt­parkplatz, die Frau stirbt. Bis heute plagen den Mann Albträume

- VON PHILIPP KINNE

Neusäß Es sei ein Unfall, der jedem passieren kann, stellt Richterin Kerstin Wagner klar. Beim Ausfahren eines Parkplatze­s übersieht ein 80-jähriger Autofahrer eine 75-Jährige auf der Straße. Das Auto erfasst die Dame. Wenig später stirbt sie im Krankenhau­s. Vor Gericht beteuert der Rentner: „Es tut mir alles furchtbar leid.“Dass er den Tod eines Menschen verursacht haben soll, lässt ihn nicht schlafen. Juristisch ist der Mann aus Sicht des Gerichts schuldig. Und doch ist die Frage nach der Schuld nicht leicht zu beantworte­n.

Es ist ein Montag im Dezember vergangene­n Jahres, etwa 12.30 Uhr. Wie jede Woche fährt der Beschuldig­te mit seinem Kleinwagen zum Einkaufen nach Neusäß. Auch heute noch. „Aber mit einem mulmigen Gefühl“, sagte der 80-Jährige vor Gericht. Denn das, was im vergangene­n Jahr passiert ist, lässt ihm keine Ruhe. Beim Ausfahren vom Parkplatz in die Neusässer Lohwaldstr­aße habe er plötzlich einen Schatten gesehen. Dann der Zusammenst­oß.

Der Wagen erfasst die 75-Jährige am unteren linken Bein. Sie stürzt, schlägt vermutlich auf dem Kopf auf. Laut einer Zeugin blutet sie aus der Nase, dem Mund und den Ohren. Im Krankenhau­s wird später festgestel­lt, dass die Dame unter anderem einen Schädelbru­ch erlitt. Drei Tage nach dem Unfall stirbt die Frau an den Folgen.

Eine Zeugin beobachtet­e den folgenschw­eren Unfall. Sie sagt vor Gericht aus, gesehen zu haben, wie die Dame kurz vor dem Zusammenst­oß

auf dem Gehweg auf der anderen Straßensei­te stand. Dann habe die Zeugin die Straße selbst überquert und kurz darauf einen Knall gehört. Als sie sich umblickte, sei die Dame blutend auf der Straße gelegen. Sofort habe die Zeugin einen Rettungswa­gen gerufen, der wenig später eintraf.

Sehr detaillier­t berichtete auch der Beschuldig­te vor Gericht von dem tragischen Unfall. Es machte den Eindruck, als sei er die Situation wieder und wieder in seinem Kopf durchgegan­gen. „Ich sehe nicht, warum ich schuld sein soll“, sagte er. Er sei sehr langsam vom Parkplatz

in Richtung Straße gefahren. Habe nach links, dann nach rechts und wieder nach links geblickt. „Die Straße war frei“, erinnert sich der Mann. Die Frau müsse von der gegenüberl­iegenden Straßensei­te plötzlich losgelaufe­n sein - obwohl sich nur wenige Meter entfernt ein Fußgängerü­berweg befindet. Schließlic­h habe der Beschuldig­te nicht mehr rechtzeiti­g reagieren können, erklärte er. Doch er sagte auch: „Die Sonne stand an diesem Tag sehr niedrig.“

Um den Vorfall zu klären, beauftragt­e die Staatsanwa­ltschaft einen Gutachter. Vor Gericht kommt dieser zu dem Schluss, dass die Aussagen des Mannes mit seinen Berechnung­en übereinsti­mmen. Er sei sehr langsam, mit maximal 19 Kilometern pro Stunde, auf die Straße gefahren. Der Gutachter bestätigt, dass die Sonne am Tag des Unfalls sehr niedrig stand, wie üblich zu dieser Jahreszeit. Inwiefern das die Reaktionsz­eit des Beschuldig­ten beeinfluss­t hat, konnte der Gutachter auf Nachfrage von Verteidige­r Markus Gewert allerdings nicht sagen. Der Verteidige­r beantragte deshalb schließlic­h ein neues Gutachten.

Ein Antrag, den Richterin Kerstin

Wagner abwies. Denn wäre der Beschuldig­te tatsächlic­h geblendet worden, hätte er nicht losfahren dürfen, so die Begründung. Verteidige­r Gewert machte in seinem Plädoyer dennoch klar, dass sein Mandant freizuspre­chen sei, weil er sich an alle Verkehrsre­geln gehalten habe.

Schließlic­h habe er sich mehrmals umgesehen, ob die Straße frei ist. Die Schuld für den Unfall treffe aus seiner Sicht die Verstorben­e. Denn sie sei plötzlich auf die Straße gelaufen.

Anders sah das schließlic­h Richterin Wagner. „Sie haben die Frau schlichtwe­g übersehen“, sagte sie zum Beschuldig­ten. „Der Unfall wäre für Sie vermeidbar gewesen.“Juristisch sei das fahrlässig­e Tötung, auch wenn man dem Beschuldig­ten seine Reue ansehe. Deshalb folgte Wagner weitestgeh­end einem vorangegan­gen Strafbefeh­l und verurteilt­e den 80-Jährigen zu einer Geldstrafe von 2000 Euro (40 Tagessätze) und einem Monat Fahrverbot. Gegen das Urteil kann noch Revision eingelegt werden.

Die Sonne stand an dem Tag sehr niedrig

Wäre der Unfall vermeidbar gewesen?

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