Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Tödlicher Unfall einer Fußgängerin: Welche Schuld hat der Fahrer?
Ein 80-Jähriger übersieht eine 75-Jährige auf einem Supermarktparkplatz, die Frau stirbt. Bis heute plagen den Mann Albträume
Neusäß Es sei ein Unfall, der jedem passieren kann, stellt Richterin Kerstin Wagner klar. Beim Ausfahren eines Parkplatzes übersieht ein 80-jähriger Autofahrer eine 75-Jährige auf der Straße. Das Auto erfasst die Dame. Wenig später stirbt sie im Krankenhaus. Vor Gericht beteuert der Rentner: „Es tut mir alles furchtbar leid.“Dass er den Tod eines Menschen verursacht haben soll, lässt ihn nicht schlafen. Juristisch ist der Mann aus Sicht des Gerichts schuldig. Und doch ist die Frage nach der Schuld nicht leicht zu beantworten.
Es ist ein Montag im Dezember vergangenen Jahres, etwa 12.30 Uhr. Wie jede Woche fährt der Beschuldigte mit seinem Kleinwagen zum Einkaufen nach Neusäß. Auch heute noch. „Aber mit einem mulmigen Gefühl“, sagte der 80-Jährige vor Gericht. Denn das, was im vergangenen Jahr passiert ist, lässt ihm keine Ruhe. Beim Ausfahren vom Parkplatz in die Neusässer Lohwaldstraße habe er plötzlich einen Schatten gesehen. Dann der Zusammenstoß.
Der Wagen erfasst die 75-Jährige am unteren linken Bein. Sie stürzt, schlägt vermutlich auf dem Kopf auf. Laut einer Zeugin blutet sie aus der Nase, dem Mund und den Ohren. Im Krankenhaus wird später festgestellt, dass die Dame unter anderem einen Schädelbruch erlitt. Drei Tage nach dem Unfall stirbt die Frau an den Folgen.
Eine Zeugin beobachtete den folgenschweren Unfall. Sie sagt vor Gericht aus, gesehen zu haben, wie die Dame kurz vor dem Zusammenstoß
auf dem Gehweg auf der anderen Straßenseite stand. Dann habe die Zeugin die Straße selbst überquert und kurz darauf einen Knall gehört. Als sie sich umblickte, sei die Dame blutend auf der Straße gelegen. Sofort habe die Zeugin einen Rettungswagen gerufen, der wenig später eintraf.
Sehr detailliert berichtete auch der Beschuldigte vor Gericht von dem tragischen Unfall. Es machte den Eindruck, als sei er die Situation wieder und wieder in seinem Kopf durchgegangen. „Ich sehe nicht, warum ich schuld sein soll“, sagte er. Er sei sehr langsam vom Parkplatz
in Richtung Straße gefahren. Habe nach links, dann nach rechts und wieder nach links geblickt. „Die Straße war frei“, erinnert sich der Mann. Die Frau müsse von der gegenüberliegenden Straßenseite plötzlich losgelaufen sein - obwohl sich nur wenige Meter entfernt ein Fußgängerüberweg befindet. Schließlich habe der Beschuldigte nicht mehr rechtzeitig reagieren können, erklärte er. Doch er sagte auch: „Die Sonne stand an diesem Tag sehr niedrig.“
Um den Vorfall zu klären, beauftragte die Staatsanwaltschaft einen Gutachter. Vor Gericht kommt dieser zu dem Schluss, dass die Aussagen des Mannes mit seinen Berechnungen übereinstimmen. Er sei sehr langsam, mit maximal 19 Kilometern pro Stunde, auf die Straße gefahren. Der Gutachter bestätigt, dass die Sonne am Tag des Unfalls sehr niedrig stand, wie üblich zu dieser Jahreszeit. Inwiefern das die Reaktionszeit des Beschuldigten beeinflusst hat, konnte der Gutachter auf Nachfrage von Verteidiger Markus Gewert allerdings nicht sagen. Der Verteidiger beantragte deshalb schließlich ein neues Gutachten.
Ein Antrag, den Richterin Kerstin
Wagner abwies. Denn wäre der Beschuldigte tatsächlich geblendet worden, hätte er nicht losfahren dürfen, so die Begründung. Verteidiger Gewert machte in seinem Plädoyer dennoch klar, dass sein Mandant freizusprechen sei, weil er sich an alle Verkehrsregeln gehalten habe.
Schließlich habe er sich mehrmals umgesehen, ob die Straße frei ist. Die Schuld für den Unfall treffe aus seiner Sicht die Verstorbene. Denn sie sei plötzlich auf die Straße gelaufen.
Anders sah das schließlich Richterin Wagner. „Sie haben die Frau schlichtweg übersehen“, sagte sie zum Beschuldigten. „Der Unfall wäre für Sie vermeidbar gewesen.“Juristisch sei das fahrlässige Tötung, auch wenn man dem Beschuldigten seine Reue ansehe. Deshalb folgte Wagner weitestgehend einem vorangegangen Strafbefehl und verurteilte den 80-Jährigen zu einer Geldstrafe von 2000 Euro (40 Tagessätze) und einem Monat Fahrverbot. Gegen das Urteil kann noch Revision eingelegt werden.
Die Sonne stand an dem Tag sehr niedrig
Wäre der Unfall vermeidbar gewesen?