Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Mein Sohn, der gefallene Soldat
Im Februar 2011 klingeln zwei Militärs bei Tanja Menz: Ihr Sohn Konstantin sei tot, sagen sie, gefallen in Afghanistan. Zehn Jahre später ziehen dort alle Truppen ab. Über die Sinnfrage dieses Krieges und eine starke Mutter, die zur Stütze anderer Hinterb
Backnang Die Flagge der Taliban, sie weht nun überall in Afghanistan, von Kandahar ganz im Süden bis in den Norden nach Masar-i-Scharif: Ein weißer Hintergrund für die Reinheit des Glaubens. Darauf das islamische Bekenntnis zum Propheten. Auf den Straßen, so wird von vor Ort berichtet, seien kaum noch Frauen zu sehen. Soldaten auch nicht. Deutschland und seine Verbündeten sind weg, die Gotteskrieger übernehmen die Kontrolle.
Einige tausend Kilometer entfernt, im ruhigen Backnang-Waldrems, nordöstlich von Stuttgart, stehen zwei Gedenktafeln auf dem Ortsfriedhof. Sie erinnern an die toten Soldaten der beiden Weltkriege, ihre Namen schmiegen sich eng aneinander. Dahinter bohrt sich ein Steinkreuz in den Boden. Die Aufschrift: „Konstantin Menz, geboren am 30. September 1988, gestorben am 18. Februar 2011, Afghanistan“. Der rötliche Grabstein des jungen Mannes ist nicht weit entfernt.
Immer wieder sind Bundeswehrsoldaten im Ausland gefallen. Doch Afghanistan, das war der längste, der aufreibendste, der verhängnisvollste Einsatz der deutschen Truppen: fast 20 Jahre lang, mehr als zwölf Milliarden Euro Kosten, insgesamt rund 150000 Deutsche in den Feldlagern und Außenposten. 59 Soldaten haben ihren Einsatz mit dem Leben bezahlt. Zum ersten Mal nach 1945 sah Deutschland zu, wie Landsleute im Ausland schossen, kämpften, litten, lebten, fielen. 59 Väter, Söhne, Brüder. 59 Familien, die jemanden aus ihrer Mitte verloren haben. Und die sich nun, wo das alles vorbei ist, fragen: Wofür?
Man würde es Tanja Menz nicht verübeln, wenn sie mit Wut auf die Bilder aus Afghanistan blickte, wenn sie wieder in ein Loch fiele, zehneinhalb Jahre nach dem Tod ihres Sohnes im Auslandseinsatz.
Doch die 53-Jährige hat einen beeindruckend differenzierten Blick auf die Welt. In den gut eineinhalb Stunden, in denen sie per Videotelefonie von ihrem Leben, von ihrer Trauer, von ihrem Konstantin erzählt, stellt sie Fragen in den Raum, seziert Gesellschaftsgruppen, um bloß nicht zu verallgemeinern, sagt Sätze wie: „Natürlich hätten wir uns gewünscht, dass wir diese Bilder nicht sehen müssen, dass es gelingt, dass dieses Land irgendwie zur Ruhe kommt. Aber ich glaube, nichts auf der Welt ist völlig sinnlos. Wenn Menschen 20 Jahre lang die Chance hatten, in die Schule zu gehen oder eine Ausbildung zu machen, ändert das etwas in den Köpfen mancher.“
Konstantin Menz wächst in einem alten Bauernhaus auf. Ein hilfsbereiter Typ, zuverlässig, einer, der sich tagsüber schon mal mit drei Geschwistern streitet und ihnen abends ein Buch vorliest. Sportlich auch, die ganze Familie ist im Judoverein, die älteste Schwester kam gerade von Olympia aus Tokio zurück.
„Viele andere sagen immer: Ich mach das irgendwann mal. Wenn Konstantin etwas vorhatte, hat er es sofort gemacht“, erzählt seine Mutter. So war es auch mit dem Militär. Im Januar 2009 tritt er die Wehrpflicht bei den Fallschirmjägern an, der erste Bundeswehrsoldat der Familie. „Ich war mir recht sicher, dass er schnell sagt: Das ist nichts für mich. Er war nie einer, der besonders uniformaffin war oder Waffen ganz toll fand. Vielleicht hatte ich auch ein falsches, zu gewaltvolles Bild von der Bundeswehr.“
Konstantin findet vor allem Kameradschaft. Nach der Grundausbildung verpflichtet er sich für vier Jahre als Zeitsoldat und geht in die Bayerwaldkaserne im niederbayerischen Regen, Panzergrenadierbataillon 112, Männer und Frauen an vorderster Front. Die, die im direkten Gefecht mit dem Gegner stehen.
Im Oktober 2010 fliegt Konstantin in die Provinz Baghlan, Außenposten Nord, OP North genannt, tief im Taliban-Gebiet. Eine kleine militärische Anlage auf einer Hügelkette, unmittelbar am Highway 3, der nach Kabul führt und den die Einsatzkräfte mit der afghanischen Armee sichern sollen. Das deutsche Lager in Kundus ist gut 100 Kilometer entfernt, Masar-i-Scharif, Sitz des deutschen Regionalkommandos, doppelt so weit. Konstantin, dunkle Haare, vereinnahmendes Grinsen, hat etwas Dari gelernt und sich den Bart wachsen lassen. „Die Afghanen haben immer gesagt: Du
doch aus wie einer von uns. Dadurch konnte er relativ leicht mit ihnen verhandeln“, scherzt Tanja Menz. Dann kommt sie auf den Tag zu sprechen, der ihr Leben auf den Kopf stellte. Ihre Stimme wird schwer, die wachen Augen feucht.
18. Februar 2011, Außenposten Nord: Zehn Soldaten reparieren die Ketten ihres Schützenpanzers, Typ Marder, darunter auch Konstantin. Ein Knochenjob, die Sonne steht um kurz vor zwölf Uhr fast am Zenit. Da zieht ein 19-jähriger afghanischer Wachposten, ein TalibanSchläfer, sein Sturmgewehr und feuert auf die Gruppe, bis das Magazin leer ist. Als er es wechseln will, wird er erschossen. Neun Männer sind getroffen. Konstantin hat einen Halsdurchschuss erlitten, eine weitere Kugel traf ihn im Rücken.
Während ihr Sohn um sein Leben kämpft, fährt Tanja Menz früher als sonst nach Hause. Ihre Tochter soll am Abend zur Sportlerin des Jahres im Ort gewählt werden. Im Autoradio hört sie: Anschlag in Afghanistan, ein 30-jähriger deutscher Soldat tot. Menz denkt nicht weiter darüber nach. Konstantin ist 22.
Am Ende des Tages sind drei Soldaten gefallen: Ein Familienvater, 30, aus Regen. Ein 21-jähriger Zeitsoldat aus Adelzhausen. Und Konstantin. Die Sanitäter hatten ihm Blut in den Körper gepumpt, bis die Konserven ausgingen. Elf Tage noch, dann wäre der Einsatz der drei Männer zu Ende gewesen. In Backnang klingeln ein Offizier und ein
Militärseelsorger an der Haustür von Familie Menz. „Ich habe mir schon immer Gedanken gemacht: Was wäre wenn? Doch…“Dann bricht die Mutter ab.
Was ist also, wenn? Wie damit umgehen, wenn das Kind im Krieg stirbt? Wie hilft die Bundeswehr, die Politik?
Aus Regen wird der Familie schnell ein Soldat an die Seite gestellt. Er schläft im Hotel, kümmert sich um Organisatorisches, um die Boulevardpresse, die Konstantins Geschwistern vor der Schule auflauert, und die Fernsehteams, die versuchen, die Beerdigung zu filmen. Mit vielen aus der Truppe ist Menz noch immer in Kontakt. „Ich hatte das Glück, dass wir durch die Bunsiehst deswehr und die Militärseelsorge gut betreut wurden“, sagt Menz.
Es ist nicht selbstverständlich, dass Hinterbliebene so offen von ihrem Verlust erzählen. Die Witwe eines 2010 gefallenen Soldaten aus Nordrhein-Westfalen sagt ein Interview ab. Zu tief sind die Wunden noch. Die Mutter eines bayerischen getöteten Gebirgsjägers sagt: „Den Abzug zu sehen, tut weh. Sehr weh.“Ein Besuch fällt aus, Teile der Familie wollen ihre Privatsphäre schützen. Menz geht einen anderen, einen konfrontativeren Weg.
Dreimal flog Tanja Menz schon nach Afghanistan, in einem Flugzeug mit den neuen Truppen. Junge Männer wie Konstantin. „Ich hatte von ihm so viele Puzzleteile. Aber selbst dort zu sein, zu sehen: wie ist das Lager, wie groß ist das Land, war der Rahmen dazu.“Die Familie des Attentäters hätte sie gern kennengelernt. Sie wollte verstehen. Zum Treffen kam es nie.
Menz organisiert einmal jährlich ein Hüttenwochenende für Konstantins damalige Kompanie, mit den Familien seiner gefallenen Kameraden. Sie sitzt im Beirat für Fragen der Inneren Führung, einem Beratergremium im Verteidigungsministerium, im Netzwerk der Hilfe der Bundeswehr, das sich um Belange von Soldatinnen, Soldaten und ihren Angehörigen kümmert. Sie bereitet Einsatzkräfte vor, die die schlimmsten Nachrichten übermitteln müssen, wie damals die beiden Männer an ihrer Tür.
Und sie ist selbstständige Trauerbegleiterin, durch Zufall eher, drei Monate nach dem Tod ihres Sohnes rief ein Kommandeur an. Ein junger Soldat sei gestorben, die Mutter allein. Ob sie nicht Kontakt aufnehmen könne? „Ich habe sie eine Woche später besucht und war dann relativ oft dort“, sagt Menz. Sie überwindet ihre Trauer, indem sie anderen über deren Trauer hinweghilft.
Bei der Bundeswehr habe sich viel geändert, sagt sie. Seit dem sogenannten Karfreitagsgefecht 2010, dem drei Soldaten zum Opfer fielen, gibt es im Verteidigungsministerium eine Beauftragte für Angelegenheiten von Hinterbliebenen. Sie kontaktiert Angehörige, zeigt Möglichkeiten auf: Therapiestunden, Hinterbliebenenwochenenden, einen Pilgerweg. Finanzielle Hilfe auch, die kürzlich aufgestockt wurde. Die Witwe eines Gefallenen erhält vom Bund 100 000 Euro. Gibt es eine solche nicht, werden den Eltern oder Kindern 40000 ausgezahlt.
Im Haus von Familie Menz merkt man nichts vom Soldatentod Konstantins. Eine Fotocollage zeigt ihn im Urlaub mit der Familie, glücklich, lachend. Natürlich hat seine Mutter auch andere Erinnerungsstücke, ein Kondolenzbuch aus dem OP North zum Beispiel, zusammengehalten von Kabelbindern. Darin Sätze wie: „Nicht nur einmal hast du auf mich aufgepasst. Leider konnte ich mich nicht revanchieren.“
Es habe eine gewisse Zeit gebraucht, um damit fertig zu werden, sagt Tanja Menz. „Aber unser Familienzusammenhalt ist dadurch sehr eng geworden. Meine Kinder haben gelernt, dass man nicht weiß, was morgen passiert.“
Es sind nicht die Bilder aus Kabul, die die Mutter wütend machen, nicht das Versagen der westlichen Politik, die Gräuel der Taliban. Es ist ein bisschen auch die deutsche Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Bundeswehr. Historisch bedingt,
Konstantin gehörte zu denen an vorderster Front
Dass Krieg herrscht, hatte niemand mitbekommen
das versteht sie. Und dennoch: Als Soldatinnen und Soldaten kostenloser Zutritt zu Bus und Bahn gewährt wurde, kam das nicht überall gut an. Wie Deutschland seine Afghanistan-Veteranen gebührend ehren will, ob überhaupt, war lange unklar. Nun soll es zumindest einen Großen Zapfenstreich vor dem Bundestag geben, im Oktober vielleicht. „Viele kriegen das tägliche normale Leben im Einsatz gar nicht mit. Es hieß immer: Die bauen Brücken. Aber den anderen Teil der Arbeit auch auszusprechen, hat man sich lange nicht getraut“, sagt Tanja Menz.
Sie kann sich an eine Begegnung erinnern, 2012 war das, sie sprach mit einem jungen Soldaten, der zur selben Zeit wie Konstantin in Afghanistan war. Vier Kameraden hat er sterben sehen, darunter seinen besten Freund. Als er heimkommt und auf ein Klassentreffen geht, fragen die anderen: „Und? War das auch gefährlich?“Dass am Hindukusch Krieg herrschte, hatte niemand richtig mitbekommen.