Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Wie die Textilindustrie das Stadtbild prägt
Hohe Schornsteine, weite Hallen: Die Spuren der Textilfabriken sind in Augsburg nicht zu übersehen. Über ein Viertel, das sein Aussehen in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder verändert hat
Rechts – klack – links – klack – rechts –klack – links – klack. Das ist der Rhythmus einer vergangenen Zeit. Immer wenn die Fadenspule auf dem alten Webstuhl von links nach rechts und von rechts nach links schießt, gibt es einen lauten Schlag. Es geht so schnell, dass die Spule mit bloßem Auge fast nicht zu sehen ist. Holz- und Metallteile bewegen sich unablässig, Ketten wandern, Räder drehen sich, bilden einen Grundton zum Schlag der Spule. Wenn ein Webstuhl schon so laut ist, wie muss es dann gewesen sein, als hunderte in einer Halle gleichzeitig vor sich hin ratterten?
Wer sich in der Maschinenhalle des Textilmuseums, kurz tim, in Augsburg umsieht, macht einen Ausflug in die Vergangenheit. In eine Zeit, in der zum Schichtwechsel Scharen von Arbeitskräften durch die Tore strömten, in Fabrikhallen voller lauter, ratternder Maschinen, in riesige Gebäude mit hohen Schornsteinen. Eine Zeit, in der die Textilindustrie das Stadtbild prägte.
Diese Zeit ist lange vorbei. Und das sieht man in Augsburg fast überall. Denn so sehr die Textilindustrie mit ihren Bauten das Augsburger Stadtbild einst beherrschte, so sehr hat es sich noch einmal verändert, als die alte Branche schließlich in den 1980ern und 1990ern zusammenbrach. Plötzlich stellte sich die Frage: Was tun mit den riesigen Flächen?
Wie sehr sich das Stadtbild seit dem Ende der Textilindustrie verändert hat, lässt sich am Textilviertel beobachten. Im Südosten der Stadt wurden einige Gebäude abgerissen, zum Beispiel die traditionsreiche Neue Augsburger Kattunfabrik, kurz NAK. Dort steht heute die City-Galerie. Andere bedeutende Bauten wie die ehemalige Augsburger Kammgarnspinnerei, kurz AKS, wurden erhalten. Dort ist heute das Textilmuseum.
SWA, NAK, AKS – es gab eine Zeit in Augsburg, da kannte fast jede Person diese Abkürzungen und meistens auch jemanden, der bei der Mechanischen Baumwollspinnerei und Weberei Augsburg, der Neuen Augsburger Kattunfabrik oder der Augsburger Kammgarnspinnerei arbeitete, bei Dierig, Martini, Albani, der Spinnerei und Weberei Pfersee, bei Ackermann in Göggingen
vielen anderen. Die Traditionsunternehmen erlebten Zeiten der Blüte und der Krise. Bilder aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigen rauchende Schornsteine, große Hallen mit hohen Fenstern, weitläufige Gelände mit dicht aneinandergedrängten Gebäuden, durchzogen von Bahngleisen. Eine aufstrebende Industrie, viele Jahrzehnte lang. Im Zweiten Weltkrieg wurden die meisten nahezu vollständig zerstört.
Doch sehr schnell rollte die Produktion wieder an, Wiederaufbau und Wirtschaftswunder ließen die Industrie boomen. In ihrer stärksten Phase nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte die Textilindustrie in Augsburg rund 20.000 Menschen. Es wurde gebaut, erneuert, erweitert. Bereits in den 1960er Jahren zeichnete sich jedoch ab, dass es so nicht ewig weitergehen würde: Der Markt war mittlerweile gesättigt, die Menschen hatten sich mit Kleidung und Heimtextilien eingedeckt.
Billiger als in Augsburg ließ sich jetzt im Ausland produzieren – erst etwa in Ungarn, dann in Asien. Die stolzen Augsburger Textilriesen gerieten zunehmend in Bedrängnis. Einige von ihnen mussten ihre Verluste mit Grundstücksverkäufen ausgleichen. Lange waren die Firmen und ihr Grundbesitz gewachsen, nun schrumpfte beides wieder.
Einer, der diese Zeit der Krise miterlebt hat, ist Christian Dierig. 35 Jahre hat er im Familienunternehmen Dierig gearbeitet, 24 Jahre lang war er Sprecher des Vorstands. Dieses Jahr ist er ausgeschieden und in den Aufsichtsrat gewechselt. Sein Unternehmen blickt auf über 220 Jahre Firmengeschichte zurück. Gegründet in Langenbielau im heutigen Polen und nach dem Ersten Weltkrieg mehr und mehr in Augsburg verwurzelt, betrieb Dierig Webereien, Spinnereien und Veredelungsbetriebe, hatte Geschäftsbeziehungen in Deutschland und darüber hinaus.
1973 stieg Christian Dierig als Praktikant im Familienunternehmen ein, 16 Jahre war er damals alt. Er montierte Maschinen und machte sie startklar. Heute erinnert er sich gerne daran: „Das war einfach ein toller Industriejob. Man wuchs, man baute auf.“Trotzdem sei aber da schon abzusehen gewesen, dass es so nicht weitergehen würde.
Als die Augsburger Textilunternehmen in die Krise gerieten, konnte zunächst ihr großer Grundbesitz das Bestehen sichern. Denn ungenutzter Grund ließ sich zu Geld machen. Auch Dierig verkaufte Grundstücke, Werkswohnungen, Maschinen, um die Krise zu bewältigen, Schulden, Abfindungen und Renten der Mitarbeiter zu bezahlen. Aus der zuletzt kriselnden Textilfirma wurde nach und nach ein erfolgreiches Immobilienunternehmen.
Die meisten Firmen überlebten die Krise nicht. Sie blieben unrentabel – und ihre oft innenstadtnahen Flächen in der wachsenden Stadt Augsburg waren sehr begehrt. Wo nicht mehr produziert wurde, sollte bald saniert, abgerissen oder neu gebaut werden.
Allein im Osten der Stadt musste mit dem Textilviertel ein ganzes Quartier neu gestaltet werden. Dieser Aufgabe musste sich Peter Menacher stellen, der zwischen 1990 und 2002 Oberbürgermeister von Augsund burg war. Die Veränderung, die das Ende der Textilindustrie für die ganze Stadt bedeutete, beschäftige ihn seine gesamte Amtszeit über.
Ein prägendes Projekt aus Menachers Zeit ist der Bau der Schleifenstraße. Die mehrspurige Straße führt heute südlich an der City-Galerie vorbei nach Nordosten und zur Autobahn und entlastet so einen Teil der Innenstadt. Schon in den 1930er Jahren gab es Pläne für diese Verkehrsader. Als diese dann umgesetzt werden sollten, regte sich jedoch Widerstand. Die Bürgeraktion Textilviertel bildete sich aus dem Protest gegen die Umfahrung, die mitten durch das Textilviertel verlaufen sollte.
Spricht man mit denjenigen, die diese Zeit miterlebt haben, fällt dabei oft das Wort „zerschneiden“. So nennt es auch Irene Merk von der Bürgeraktion Textilviertel. An den Bau kann sie sich noch gut erinnern. Denn sie wohnte damals selbst nahe der Schleifenstraße. Und auch sie war gegen die Umfahrung.
Am Ende entschied sich bei einem Volksbegehren aber eine deutliche Mehrheit für die Schleifenstraße. Das Projekt wurde verwirklicht. Wer heute auf der Provinostraße stadtauswärts in Richtung Textilviertel unterwegs ist, steht auf einmal in einer Sackgasse – die Provinostraße endet an der Schleifenstraße und führt auf der anderen Seite weiter. Überqueren lässt sich die Straße hier nicht, hinter den Fahrspuren ist eine Mauer.
Das Textilviertel, einst vor den Toren der Stadt, war früher nicht konsequent erschlossen und eine Mischung aus Industrie, Wohnen und verschiedenen Nutzungen. Heute ist es ein begehrter Wohnort – nah an der Innenstadt, aber trotzdem ruhig, mit viel Grün und viel Wasser. Perlen der Architektur wie der Glaspalast wurden erhalten, andere alte Gebäude saniert. Viele zusätzliche Häuser entstanden, moderne Ein- und Mehrfamilienhäuser reihen sich aneinander. „Das Textilviertel war nie so dicht bebaut wie heute“, sagt Christina Sammüller, die Augsburger Forscherin. Denn früher hätten Unternehmen oft große Flächen freigehalten, zum Beispiel für weitere Gebäude.
Wenn viel neu entsteht und saniert wird, verändert das den Charakter eines Viertels. Und der wiederum schlägt sich auf die Menschen nieder, die dort leben. So empfindet es Christoph Mößbauer von der Bürgeraktion Textilviertel, wenn er heute durch das Proviantbachquartier im Norden des Textilviertels geht. Entlang der Otto-Lindenmeyer-Straße stehen ockerfarbene Ziegelbauten, sanfter Wind raschelt durch die Alleebäume, ansonsten herrscht meist Nachmittagsstille. Das, sagt Mößbauer, sei früher anders gewesen: Mehr Leben, aber eher heruntergekommene Gebäude, in denen sich auch Menschen mit wenig Geld eine Wohnung hätten leisten können.
Wer baut, saniert und umwandelt, gestaltet also den Charakter eines Ortes. So auch das Textilunternehmen Dierig, das schon lange ein Immobilienunternehmen ist. Dierig musste einen großen Teil des Grundbesitzes verkaufen, um das Unternehmen zu retten. Der Wandel gelang, die Firma überlebte. Auf den übrigen und mittlerweile auch auf zugekauften Flächen saniert und baut Dierig – und prägt damit die Stadt aufs Neue.
Christian Dierig betont, wie wichtig es sei, Altes zu erhalten: „Wir wollen den Denkmalschutz pflegen.“Solche Orte zu bewahren sei teuer und dauere. „Aber wenn Sie sich die wirklich schönen alten Augsburger Gebäude ansehen, die Denkmäler, das war nie billig. Aber das macht Augsburg aus.“
An vielen Orten gibt es diese alten Gebäude und Denkmäler noch, die Christian Dierig so schätzt. Manche sind hingegen komplett verschwunden, zum Beispiel die NAK, die der City-Galerie gewichen ist. So stellt sich jedes Mal die Frage, die auch Alt-OB Peter Menacher lange umgetrieben hat: „Sanieren oder Neues bauen?” Menacher hat dafür eine Leitlinie gefunden: Entscheidend sei für ihn immer gewesen, dass Menschen gerne in Augsburg leben.
Diese Menschen sind dabei Partner und Gegenpol zur Politik zugleich. Das haben sie schon beim Protest gegen die Schleifenstraße bewiesen. Auch wenn die Bürgeraktion Textilviertel schon lange als Verein organisiert ist und mittlerweile auch Kulturveranstaltungen anbietet, betont der Vorsitzende Martin Hefele, dass man auch weiterhin Anlaufstelle für Probleme sein wolle.
Als Ort des Austauschs will die Bürgeraktion in Zukunft den Färberturm nutzen, der auf dem Gelände der ehemaligen Kammgarnspinnerei steht. Der 1795 errichtete Holzturm wurde einst gebaut, um gefärbte Stoffbahnen zum Trocknen aufzuhängen. Später war das Gebäude mal Pferdestall, mal Lager, mal Trockenturm für die Schläuche einer freiwilligen Feuerwehr. Dann stand es jahrelang leer und verkam, einmal brannte es. Schließlich ließ die Stadt den Turm sanieren. Heute bringt die Bürgeraktion neues Leben in das Gebäude: Seit September 2020 erstrahlt der Färberturm in neuem Glanz und soll bald für erste kleinere Veranstaltungen öffnen.
Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Der Stoff, aus dem die Stadt gemacht ist“, das in Kooperation mit der Deutschen Journalistenschule in München entstanden ist.
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im Internet www.textilesaugsburg.de