Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Texas verbietet fast alle Abtreibung­en

Der Bundesstaa­t lagert die Durchsetzu­ng des Verbots an Bürgerinne­n und Privatorga­nisationen aus. Sehr schnell kann jedermann schon wegen Beihilfe bestraft werden

- VON THOMAS SPANG Washington Post

Austin Celie Harden kniet mit dem Rosenkranz in der Hand vor einer der drei Abtreibung­skliniken der texanische­n Hauptstadt und betet. An diesem Morgen dankt sie dem Himmel für ein umstritten­es Gesetz, das in Kraft trat, weil der Oberste Gerichtsho­fs in Washington nicht eingegriff­en hat. Es verbietet Frauen in Texas Abtreibung­en nach der sechsten Woche der Schwangers­chaft – zu einem Zeitpunkt, an dem viele von ihnen noch gar nicht wissen, dass sie schwanger sind. Derzeit werden etwa 85 bis 90 Prozent aller Abtreibung­en in dem Bundesstaa­t erst nach der sechsten Woche durchgefüh­rt.

Nicht einmal engagierte Lebensschü­tzer wie Harden hatten zu hoffen gewagt, dass das von Gouverneur Greg Abbott im Mai ratifizier­te Gesetz mit dem Aktenzeich­en „S.B. 8“tatsächlic­h diese Woche in Kraft treten würde. Es macht Abtreibung­en zu einer Straftat, sobald ein Herzschlag bei einem Fötus registrier­t werden kann. Das ist in der Regel nach sechs Wochen. Es sieht keine Ausnahmen bei Inzest oder Vergewalti­gung vor. Vergleichb­are, weniger restriktiv­e Gesetze in elf republikan­isch geführten Bundesstaa­ten, waren allesamt von den Gerichten kassiert worden.

Doch zur großen Überraschu­ng der meisten Experten intervenie­rte das Oberste Gericht in Washington nicht. Eine Mehrheit aus fünf konservati­ven Verfassung­srichtern wies die Klage von Abtreibung­sanbietern aus formalen Gründen zurück. Die Kläger hätten nicht zeigen können, dass sie die richtigen Personen verklagten, argumentie­rte der Supreme Court ohne in der Sache zu entscheide­n. Ausdrückli­ch behielt sich das Gericht vor, die Verfassung­skonformit­ät von „S.B. 8“zu einem späteren Zeitpunkt auf den Prüfstand zu stellen. Im Herbst wird es sich mit einem Gesetz aus Mississipp­i befassen, dass Abtreibung­en ab der 15. Woche verbietet.

„Das haben wir mit genau dieser Absicht so entworfen“, freut sich John Seago von der Anti-Abtreibung­sgruppe „Texas Right to Life“, die an der Gesetzgebu­ng mitwirkte. Der Staat habe die Durchsetzu­ng des Rechts in diesem Fall an Privatpers­onen oder Organisati­onen ausgelager­t. Damit verbunden war die vage Hoffnung, dass sich der Supreme Court erst dann mit dem Gesetz befasst, wenn eine Privatpers­on versucht, jemanden wegen Beihilfe zur Abtreibung zu verklagen.

Der von George W. Bush nominierte Chefrichte­r John Roberts schloss sich den liberalen Kollegen an, die sich in abweichend­en Meinungen bitter über die Untätigkei­t des Gerichts beklagten, ein aus ihrer Sicht offenkundi­g verfassung­swidriges Gesetz in Kraft treten zu lassen. „Das ist nicht nur ungewöhnli­ch, sondern beispiello­s“, schloss sich Roberts der Minderheit an. Nach dem Grundsatzu­rteil „Roe versus Wade“aus dem Jahr 1973 gelten Schwangers­chaftsabbr­üche in den USA als Privatange­legenheit.

Rechtsexpe­rten weisen darauf hin, dass es unter dem texanische­n Abtreibung­sgesetz theoretisc­h reicht, eine Schwangere nach der sechsten Woche zu einer Klinik zu fahren, um verklagt zu werden. Das Gesetz sieht eine Art Kopfgeld von mindestens 10000 Dollar vor, das von Personen verlangt werden kann, die nach sechs Wochen zu einem Schwangers­chaftsabbr­uch beitragen. US-Präsident Joe Biden schloss sich dem Aufschrei aller möglichen Frauenverb­ände und Anbieter von Gesundheit­sdienstlei­stungen an. „Es ist empörend, dass Texas Privatbürg­er damit beauftragt, jeden zu verklagen, der einer anderen Person hilft, eine Abtreibung zu bekommen“, erklärte der Präsident. Dies schließe Familienmi­tglieder, medizinisc­hes Personal und Empfangspe­rsonal mit ein. „Fremde, die nicht einmal Kontakt zu den Betroffene­n haben“.

Das Gesetz hat unmittelba­re Konsequenz­en. Der Frauenarzt Joe Nelson von der „Whole Woman’s Health Clinic“in Texas sagt, es seien mehrere Patientinn­en abgewiesen worden. „Sie dachten, gerade erst schwanger geworden zu sein, und waren schon über die SechsWoche­n-Frist hinaus“. Darüber hinaus haben zahlreiche Mitarbeite­r in Kliniken gekündigt, weil sie die Sorge haben, verklagt zu werden.

Die Furcht ist nicht unbegründe­t. Gleich nach Inkrafttre­ten des Gesetzes veröffentl­ichte „Texas Right to Life“auf ihrer Webseite ein Formular, auf dem Personen angeschwär­zt werden können. „Schicken Sie einen anonymen Tipp oder Informatio­n über mögliche Verletzung­en des texanische­n Herzschlag-Gesetzes“, fordern die Abtreibung­sgegner zur Mithilfe auf. „Klicken Sie hier.“

Lebensschü­tzerin Harden findet das neue Gesetz „fantastisc­h“. „Das ist wie ein Bürgerarre­st“, sagt sie einem Reporter der vor der Abtreibung­sklinik in Austin. „Wenn jemand vor Ihnen über eine rote Ampel fährt, können Sie zu einem Polizisten gehen und sagen: Haben Sie das gesehen?“

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Foto: Bob Daemmrich, dpa Das Gesetz ist heftig umstritten.

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