Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Unsere Demokratie ist nicht immun“
Die Grünen-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth hadert mit der Spaltung der Gesellschaft und der Klimapolitik von Union und SPD. Warum sie im Wahlkampf öfter einmal Brecht zitiert
„Stoppt Söder“hat jemand mit Kreide auf den Asphalt geschrieben. Die meisten Kundinnen und Kunden des Königsbrunner Wochenmarkts laufen an diesem Samstag achtlos über die Botschaft hinweg, die der Regen in der folgenden Nacht wegwaschen wird. Sie wollen nur kurz einkaufen, etwas Gemüse, Käse, was man eben so braucht für ein Wochenende. Dann aber sehen sie sich überraschend doch konfrontiert mit der Politik, die ihnen in Gestalt einer Frau mit knielangem, rotem Kleid und Kermit-grüner Maske begegnet. Claudia Roth hat Käse gekauft, jetzt zieht es sie zum Nudelstand - „und dann brauch ich a g’scheits Brot“. Es ist nur noch wenig Zeit bis zur Bundestagswahl, und die Grünen-Kandidatin nutzt die Gelegenheit, um mit den Menschen ihres Wahlkreises ins Gespräch zu kommen.
In Königsbrunn scheint ihre Fangemeinde groß zu sein, auf einem Wochenmarkt mit regionalen Anbietern auf Grünen-Wähler zu stoßen, ist aber auch nicht allzu schwer. „I wünsch Ihnen an guten Wahlerfolg“, ruft ihr eine Frau mit Fahrrad im Vorbeigehen zu und hebt den Daumen hoch, ein Paar versichert ihr, seit Jahren „die richtige Partei“zu wählen. Ein paar Stunden später in der Augsburger Annastraße sieht es anders aus. „Frau Roth, Sie sind gut drauf, aber die Grünen kann man nicht wählen“, sagt ein Mann, der am Infostand vorbeiläuft. Die Bundestagsvizepräsidentin rennt ihm hinterher, es kommt zum kurzen Gespräch, beide lachen. Dann zieht der Mann seiner Wege. Das grüne Windrad und die Flyer mit dem Wahlprogramm nimmt er nicht mit, sein Kreuz wird er am 26. September wohl woanders machen.
Später, beim Gespräch in einem Café, lehnt sich die 66-jährige Politikerin entspannt zurück, wenn es um ihr mögliches persönliches Abschneiden geht. Sie hoffe auf ein gutes Ergebnis, sagt sie, aber dass manche ihr zutrauen, in Augsburg diesmal sogar das Direktmandat holen zu können, nein, daran glaubt sie nicht. „Volker Ullrich hatte vor vier Jahren einen großen Vorsprung.“34,8 Prozent der Erststimmen waren es für den CSU-Kandidaten, während Claudia Roth auf 13,9 Prozent kam. Doch Ullrich hatte damals gut zehn Prozentpunkte verloren, die Grünen wiederum haben seit 2017 einen Aufschwung erlebt, auch wenn sie in den Umfragen derzeit hinter CDU und SPD zurückliegen. Nach der Kür von Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin traten viele neue Mitglieder in die Partei ein, der bayerische Landesverband
aktuell fast 19.000 - 2019 waren es noch 12.000. „Ich spüre überall eine extrem positive Grundstimmung“, bestätigt Claudia Roth, die im Wahlkampf als Bundestagsvizepräsidentin nicht nur in ihrem Wahlkreis und Bayern, sondern auch deutschlandweit unterwegs ist.
Roth ist eine durch und durch politische Frau. Seit über 20 Jahren sitzt sie im Bundestag, zehn Jahre war sie Vorsitzende der deutschen Grünen, Kanzler Gerhard Schröder (SPD) machte sie zu seiner Menschenrechtsbeauftragten, auch Mitglied des Europaparlaments war die gebürtige Ulmerin schon. Sie selbst sagt, für viele sei sie eine „leibhaftige Provokation“, für viele Kolleginnen und Kollegen im Bundestag dagegen ist sie eine „leidenschaftliche Verfechterin unserer vielfältigen Demokratie und Kämpferin für die Menschenrechte und für globale Klimagerechtigkeit“. Claudia Roth polarisiere zwar als Person, „aber gleichzeitig spürt man ihre tiefe Verwurzelung in der schwäbischen Heimat. Mit ihrer offenen und herzlichen Art vor Ort kann sie die Menschen immer wieder für die wichtigen politischen Themen begeistern und zieht Interessierte an“, sagt die Grünen-Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz über die Bundestagsvizepräsidentin Roth.
Roth selbst klagt, seit dem Einzug der AfD in den Bundestag habe sich das Klima enorm verschlechtert. Sie spricht von „systemischen Angriffen“, von Diffamierungen und dem Versuch, nicht nur den politischen Ruf des Gegners, sondern auch dessen Seele kaputtzumachen. „Da überlegt man sich manchmal, warum man sich das überhaupt antut.“Doch Claudia Roth ist keine, die sich einschüchtern lässt. „Wenn ich sehe, was Muslime, Juden, Roma in unserem Land noch immer aushalten müssen, dann sage ich erst recht: keinen Millimeter nachgeben.“Eher zieht sie einen anderen Schluss: „Unsere Demokratie ist nicht immun.“Sie zu stärken, ist deshalb eines ihrer wichtigsten Anliegen: „Von einer neuen Regierung erwarte ich, dass sie die Gesellschaft der vielen gestaltet.“
„Die Leute wollen
Schwarzzählt
Grün“, diesen Eindruck hat Claudia Roth schon aus dem Wahlergebnis der vergangenen Landtagswahl in Bayern herausgelesen. Söder sei durch die Koalition mit den Freien Wählern nur den einfacheren Weg gegangen. „Die schwarz-grüne Koalition in Augsburg ist für ihn jetzt eine Möglichkeit, eine solche politische Konstellation zu beobachten.“Wie die künftige Regierung auf Bundesebene aussehen wird, sei spannend. „Wenn ein Drittel der Leute sagt, dass man keinen der drei Kanzlerkandidaten wählen kann, was heißt das dann? Dass die alle nicht wählen gehen?“Es wäre wohl die schlimmste Entwicklung: „Wichtig ist erst einmal, dass alle wählen gehen – und zwar demokratisch. Die demokratischen Parteien müssen miteinander arbeiten können, das hat uns die AfD klargemacht.“
Am liebsten wäre der 66-Jährigen eine Klimakoalition – „so stark, das man inhaltlich gut zusammenarbeiten kann“. Große Verbündete sieht sie hier derzeit weder in Armin Laschet (CDU) noch in Olaf Scholz (SPD). „Mit beiden bleiben wir beim Kohleausstieg 2038 und verfehlen damit klar unsere Klimaziele.“Es gehe, sagt sie gleich dazu, aber auch nicht allein um den CO2-Ausstoß. Es gehe um Verkehrspolitik, um Landwirtschaftspolitik und um eine Offensive im Städtebau, die einerseits bezahlbaren Wohnraum schafft, andererseits den Flächenverbrauch reduziert und Städte vor einer zunehmenden Überhitzung im Sommer schützt.
Roth, die in Augsburg erst ihre erste eigene Wohnung bezogen hat, hält es im Wahlkampf übrigens mit einem Augsburger, den seine Wege ebenso wie Claudia Roth irgendwann nach Berlin führten: „Der Brecht hat mal gesagt: ‘Ändere die Welt, sie braucht es.’ Ich sage jetzt immer: Ändere die Regierung, die Welt braucht es“, erzählt Roth. Hoffnung auf Veränderung hat sie durchaus: „Ich bin zuletzt vielen Menschen begegnet, die mir sagten, so gehe es nicht weiter.“Die Grünen-Politikerin glaubt deshalb fest an einen Wechsel. Die Grünen seien bereit, ihn zu gestalten.