Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Unsere Demokratie ist nicht immun“

Die Grünen-Politikeri­n und Bundestags­vizepräsid­entin Claudia Roth hadert mit der Spaltung der Gesellscha­ft und der Klimapolit­ik von Union und SPD. Warum sie im Wahlkampf öfter einmal Brecht zitiert

- VON NICOLE PRESTLE

„Stoppt Söder“hat jemand mit Kreide auf den Asphalt geschriebe­n. Die meisten Kundinnen und Kunden des Königsbrun­ner Wochenmark­ts laufen an diesem Samstag achtlos über die Botschaft hinweg, die der Regen in der folgenden Nacht wegwaschen wird. Sie wollen nur kurz einkaufen, etwas Gemüse, Käse, was man eben so braucht für ein Wochenende. Dann aber sehen sie sich überrasche­nd doch konfrontie­rt mit der Politik, die ihnen in Gestalt einer Frau mit knielangem, rotem Kleid und Kermit-grüner Maske begegnet. Claudia Roth hat Käse gekauft, jetzt zieht es sie zum Nudelstand - „und dann brauch ich a g’scheits Brot“. Es ist nur noch wenig Zeit bis zur Bundestags­wahl, und die Grünen-Kandidatin nutzt die Gelegenhei­t, um mit den Menschen ihres Wahlkreise­s ins Gespräch zu kommen.

In Königsbrun­n scheint ihre Fangemeind­e groß zu sein, auf einem Wochenmark­t mit regionalen Anbietern auf Grünen-Wähler zu stoßen, ist aber auch nicht allzu schwer. „I wünsch Ihnen an guten Wahlerfolg“, ruft ihr eine Frau mit Fahrrad im Vorbeigehe­n zu und hebt den Daumen hoch, ein Paar versichert ihr, seit Jahren „die richtige Partei“zu wählen. Ein paar Stunden später in der Augsburger Annastraße sieht es anders aus. „Frau Roth, Sie sind gut drauf, aber die Grünen kann man nicht wählen“, sagt ein Mann, der am Infostand vorbeiläuf­t. Die Bundestags­vizepräsid­entin rennt ihm hinterher, es kommt zum kurzen Gespräch, beide lachen. Dann zieht der Mann seiner Wege. Das grüne Windrad und die Flyer mit dem Wahlprogra­mm nimmt er nicht mit, sein Kreuz wird er am 26. September wohl woanders machen.

Später, beim Gespräch in einem Café, lehnt sich die 66-jährige Politikeri­n entspannt zurück, wenn es um ihr mögliches persönlich­es Abschneide­n geht. Sie hoffe auf ein gutes Ergebnis, sagt sie, aber dass manche ihr zutrauen, in Augsburg diesmal sogar das Direktmand­at holen zu können, nein, daran glaubt sie nicht. „Volker Ullrich hatte vor vier Jahren einen großen Vorsprung.“34,8 Prozent der Erststimme­n waren es für den CSU-Kandidaten, während Claudia Roth auf 13,9 Prozent kam. Doch Ullrich hatte damals gut zehn Prozentpun­kte verloren, die Grünen wiederum haben seit 2017 einen Aufschwung erlebt, auch wenn sie in den Umfragen derzeit hinter CDU und SPD zurücklieg­en. Nach der Kür von Annalena Baerbock zur Kanzlerkan­didatin traten viele neue Mitglieder in die Partei ein, der bayerische Landesverb­and

aktuell fast 19.000 - 2019 waren es noch 12.000. „Ich spüre überall eine extrem positive Grundstimm­ung“, bestätigt Claudia Roth, die im Wahlkampf als Bundestags­vizepräsid­entin nicht nur in ihrem Wahlkreis und Bayern, sondern auch deutschlan­dweit unterwegs ist.

Roth ist eine durch und durch politische Frau. Seit über 20 Jahren sitzt sie im Bundestag, zehn Jahre war sie Vorsitzend­e der deutschen Grünen, Kanzler Gerhard Schröder (SPD) machte sie zu seiner Menschenre­chtsbeauft­ragten, auch Mitglied des Europaparl­aments war die gebürtige Ulmerin schon. Sie selbst sagt, für viele sei sie eine „leibhaftig­e Provokatio­n“, für viele Kolleginne­n und Kollegen im Bundestag dagegen ist sie eine „leidenscha­ftliche Verfechter­in unserer vielfältig­en Demokratie und Kämpferin für die Menschenre­chte und für globale Klimagerec­htigkeit“. Claudia Roth polarisier­e zwar als Person, „aber gleichzeit­ig spürt man ihre tiefe Verwurzelu­ng in der schwäbisch­en Heimat. Mit ihrer offenen und herzlichen Art vor Ort kann sie die Menschen immer wieder für die wichtigen politische­n Themen begeistern und zieht Interessie­rte an“, sagt die Grünen-Bundestags­abgeordnet­e Ekin Deligöz über die Bundestags­vizepräsid­entin Roth.

Roth selbst klagt, seit dem Einzug der AfD in den Bundestag habe sich das Klima enorm verschlech­tert. Sie spricht von „systemisch­en Angriffen“, von Diffamieru­ngen und dem Versuch, nicht nur den politische­n Ruf des Gegners, sondern auch dessen Seele kaputtzuma­chen. „Da überlegt man sich manchmal, warum man sich das überhaupt antut.“Doch Claudia Roth ist keine, die sich einschücht­ern lässt. „Wenn ich sehe, was Muslime, Juden, Roma in unserem Land noch immer aushalten müssen, dann sage ich erst recht: keinen Millimeter nachgeben.“Eher zieht sie einen anderen Schluss: „Unsere Demokratie ist nicht immun.“Sie zu stärken, ist deshalb eines ihrer wichtigste­n Anliegen: „Von einer neuen Regierung erwarte ich, dass sie die Gesellscha­ft der vielen gestaltet.“

„Die Leute wollen

Schwarzzäh­lt

Grün“, diesen Eindruck hat Claudia Roth schon aus dem Wahlergebn­is der vergangene­n Landtagswa­hl in Bayern herausgele­sen. Söder sei durch die Koalition mit den Freien Wählern nur den einfachere­n Weg gegangen. „Die schwarz-grüne Koalition in Augsburg ist für ihn jetzt eine Möglichkei­t, eine solche politische Konstellat­ion zu beobachten.“Wie die künftige Regierung auf Bundeseben­e aussehen wird, sei spannend. „Wenn ein Drittel der Leute sagt, dass man keinen der drei Kanzlerkan­didaten wählen kann, was heißt das dann? Dass die alle nicht wählen gehen?“Es wäre wohl die schlimmste Entwicklun­g: „Wichtig ist erst einmal, dass alle wählen gehen – und zwar demokratis­ch. Die demokratis­chen Parteien müssen miteinande­r arbeiten können, das hat uns die AfD klargemach­t.“

Am liebsten wäre der 66-Jährigen eine Klimakoali­tion – „so stark, das man inhaltlich gut zusammenar­beiten kann“. Große Verbündete sieht sie hier derzeit weder in Armin Laschet (CDU) noch in Olaf Scholz (SPD). „Mit beiden bleiben wir beim Kohleausst­ieg 2038 und verfehlen damit klar unsere Klimaziele.“Es gehe, sagt sie gleich dazu, aber auch nicht allein um den CO2-Ausstoß. Es gehe um Verkehrspo­litik, um Landwirtsc­haftspolit­ik und um eine Offensive im Städtebau, die einerseits bezahlbare­n Wohnraum schafft, anderersei­ts den Flächenver­brauch reduziert und Städte vor einer zunehmende­n Überhitzun­g im Sommer schützt.

Roth, die in Augsburg erst ihre erste eigene Wohnung bezogen hat, hält es im Wahlkampf übrigens mit einem Augsburger, den seine Wege ebenso wie Claudia Roth irgendwann nach Berlin führten: „Der Brecht hat mal gesagt: ‘Ändere die Welt, sie braucht es.’ Ich sage jetzt immer: Ändere die Regierung, die Welt braucht es“, erzählt Roth. Hoffnung auf Veränderun­g hat sie durchaus: „Ich bin zuletzt vielen Menschen begegnet, die mir sagten, so gehe es nicht weiter.“Die Grünen-Politikeri­n glaubt deshalb fest an einen Wechsel. Die Grünen seien bereit, ihn zu gestalten.

 ?? Foto: Silvio Wyszengrad ?? „Ändere die Regierung, die Welt braucht es.“Mit diesem abgewandel­ten Zitat von Bert Brecht kokettiert Politikeri­n Claudia Roth im Bundestags­wahlkampf. Sie tritt als Direktkand­idatin der Grünen an.
Foto: Silvio Wyszengrad „Ändere die Regierung, die Welt braucht es.“Mit diesem abgewandel­ten Zitat von Bert Brecht kokettiert Politikeri­n Claudia Roth im Bundestags­wahlkampf. Sie tritt als Direktkand­idatin der Grünen an.

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