Augsburger Allgemeine (Land Nord)
„Kultur und Avantgarde für alle!“
Interview Der Kulturanthropologe Julian Warner wird ab 2023 das Augsburger Brechtfestival verantworten. Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt er, was das Publikum schon jetzt erwarten kann – und was noch nicht
Herr Warner, wie beschreiben Sie das, was Sie beruflich machen?
Julian Warner: Ich sage immer: Ich bin Kulturanthropologe, der in verschiedenen Bereichen arbeitet, in Performance-Kunst, Kuration, Musik und Wissenschaft. Und dabei nehme ich diese Sparten spielerisch, setze sie miteinander in Beziehung und rühre die Suppe um.
Wie oft ist Ihnen in dieser Tätigkeit schon Brecht untergekommen?
Warner: Ich habe ein Künstlerpseudonym Fela Kuti. Wenn ich die Rezensionen zu meiner letzten Performance anschaue und zum letzten Album, das ich herausgebracht habe, habe ich das Gefühl, dass ich stark auf Brechts Spuren wandle, etwa im Umgang mit Widersprüchen, die ich herausarbeite.
Inwieweit war Brecht für Sie eine Bezugsgröße im Arbeitsprozess?
Warner: Ich muss gestehen, dass mich der Deutschunterricht abgeschreckt hat (lacht).
In Ihrer Schulzeit war Brecht also noch nicht so wichtig für Sie?
Warner: Alle waren mal im Kaukasischen Kreidekreis und haben die Dreigroschenoper gesehen. Ich finde, dass das ein wichtiges literarisches Erbe ist, das es zu verteidigen gilt. Aber es gibt auch Auswüchse dessen, die abschreckend sind. Gegen meinen Deutschunterricht, in dem die Literatur mit einem großen pädagogischen Anspruch vermittelt wurde – hier kommt das Wahre, das Schöne und das Gute – gegen das hatte ich einen großen Widerstand. Jetzt merke ich aber in meiner Arbeit, dass ich ein Fan von Brechts Idee bin, Kunst und Pädagogik affirmativ zusammenzudenken.
Was haben Sie sich gedacht, als Sie die Ausschreibung für das Brechtfestival sahen?
Warner: Als erstes: Ich liebe Brecht auf eine Art und Weise, auch die Werke, die er mit Hanns Eisler zusammen gemacht hat und mit Kurt Weill, diese Gesamtkunstwerke. Auf der anderen Seite hasse ich sie (lacht), weil ich das Gefühl habe, dass die Stücke an der heutigen Zeit vorbeigehen. In einer Zeit, in der unsere iPhones in China hergestellt werden mit Ressourcen, die im Kongo gewonnen werden, in einer Zeit, in der es in Augsburg die Textilindustrie gar nicht mehr gibt, in so einer Zeit zu sagen, wir machen Thea
das dich als Arbeiter abholt und mit dem du dich emanzipieren kannst, das funktioniert nicht mehr.
Die Stoffe sind für Sie aus unserer Zeit gefallen?
Warner: Ihr Anspruch ist ja richtig. Brecht hat immer so gearbeitet, dass er die Bedingungen genau analysiert und zur Grundlage für seine Kunst genommen hat. Wenn ich mir Deutschland heute anschaue, haben sich die Grundvoraussetzungen geändert, müssen wir den Umgang mit der Klimakatastrophe oder aber mit der Künstlichen Intelligenz im Auge behalten. Die Rahmenbedingungen heute sind radikal andere, darum muss es gehen.
Und wie kamen Sie dann dazu, sich trotzdem zu bewerben?
Warner: Dieser Widerspruch war die Herausforderung. Ich trete ja dezidiert an mit der Aussage: Keine Musealisierung Brechts auf der Guckkastenbühne. Es geht mir nicht darum, eine Brecht-Inszenierung dort hinzustellen und damit ein gutes Vermittlungsprogramm zu machen. Das wird es mit mir nicht geben.
Was wird es dann mit Ihnen geben? Warner: Mit mir wird es einen Community-orientierten Brecht geben. Ich möchte in die Stadtteile gehen. Ich möchte mit verschiedenen Gemeinschaften in der Stadt, ob das Kulturvereine, ob das verschiedene Milieus sind, zusammenarbeiten, gemeinsam mit avantgardistischen Künstlern und Künstlerinnen. Bei mir geht das immer Hand in Hand, Kultur und Avantgarde für alle. Wir wollen neue Parabeln und neue performative Formen entwickeln. Ich trete an im Wissen des kulturellen Erbes, zu dem sich die Stadt auch bekennt, und möchte das weiterentwickeln für eine Stadt, die stärker mit einbezogen werden muss. Wir brauchen Orte, an denen wir über das Klima, über Künstliche Intelligenz und über Identität sprechen.
Sie entwickeln neue Formen, spielen also keinen Brecht, nehmen aber seine Ideen mit?
Warner: Ich bin kein Dogmatiker. Es wird auch etwas von Brecht zu sehen geben. Aber mir geht es schon darum, etwas Neues zu erfinden. Gleichzeitig muss das kulturelle Erbe auch gepflegt werden. Das Brechtfestival ist eine große Nummer in der Stadt und soll für alle Bevölkerungsschichten da sein. Ich
möchte niemanden verprellen, aber ich möchte den Türspalt aufmachen. Es reicht nicht mehr, dass wir uns in den Theatersaal begeben und uns gegenseitig auf die Schulter klopfen, weil wir uns weiter am Kanon abgearbeitet haben. Die Arbeit am Kanon ist wichtig, aber es muss auch diese Öffnung geben.
Das ist für Sie ein zentrales Thema Ihrer Arbeit?
Warner: Ich komme aus einer Bewegung heraus, die klar sagt, dass sich Kunst und Kultur neu legitimieren müssen und dazu Teilhabe zu organisieren, sich gegenüber einer Stadtter,
gesellschaft zu öffnen haben. Ich denke, dass man Brecht nicht unrecht tut, wenn man das mit seinem Erbe auch macht.
Wie weit ist der Prozess schon fortgeschritten?
Warner: Noch gar nicht. Ich lebe in München. Ich werde jetzt erst einmal die Stadt kennenlernen. Da bin ich dann ganz Kulturanthropologe. Mich interessieren die Probleme, die Geschichten.
Das ist jetzt von Vorteil für Sie, dass Sie in einer knappen Stunde mit dem Zug nach Augsburg kommen können?
Warner:
Halbe Stunde.
Sie nehmen den ICE?
Warner: (Lacht) Irgendetwas muss man sich mit Mitte 30 auch schon leisten. Zum Bahnhof wird aber mit dem Rad gefahren.
Jetzt wird Augsburg erforscht? Warner: Über drei Jahre hinweg. Das wird wachsen. Zum 125-jährigen Jubiläum 2023 brauchen wir etwas Besonderes.
Ist das große Brecht-Jubiläum gleich zum Auftakt eher Fluch oder Segen für Sie? Am Ende Ihrer dreijährigen Zeit wäre das als großes Finale, auf das alles zuläuft, ja leichter zu planen. Warner: Ich habe Respekt davor, aber ich bin nicht allein. Es gibt das Brechtbüro mit Kathrin Dollinger, die jede Menge Erfahrung mitbringt, deshalb fangen wir nicht bei Null an. Was mir auch wichtig ist: Die Brechtfestivals haben ja eine Geschichte, haben eine Entwicklung hingelegt – von etwas sehr Repräsentativem über eine eher feministische Auseinandersetzung bis zu Spektakeln jetzt. Ich knüpfe da an ganz viel an.
Was heißt das für das Jubiläums-Festival?
Warner: Was wir dort genau machen, kann ich Ihnen noch nicht sagen. Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass es diese drei Stränge geben wird: das Klima, Künstliche Intelligenz und die Identitätsfragen.
Und was treibt Sie in Bezug auf Brecht an?
Warner: Sie merken, ich lege mich jetzt nicht fest auf diese Regieschule, das Stück oder die Phase. Mein Zugang zu Brecht ist erst einmal ein theoretischer. Frederic Jameson hat das Buch geschrieben „Brecht als Methode“. Er formuliert das Brecht’sche Werk als eine Theatermethode, in der es darum geht, den Zuschauern und Zuschauerinnen zu ermöglichen, sich selbst in der dritten Person in einem spezifischen zeitlichen Kontext wahrzunehmen – mit den Handlungsoptionen, die ihr zur Verfügung stehen. Das leitet mich durch das Festival, das ist toll für eine Stadt, aber das ist auch toll als ein Labor für eine Theaterszene. Und es gibt diesen schönen Satz von Hanns Eisler: Brecht hat nichts mehr gehasst als Leute, die nichts ausprobieren, nichts wagen.