Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Pianistischer Ritt über drei Epochen
Mozartfest Alexandre Tharaud gab im Kleinen Goldenen Saal einen Klavier-Nachmittag von enormer Bandbreite
In Franz Liszts berühmten „Funérailles“wird mehr zu Grabe getragen als „nur“ein Mensch. Auch wenn der Untertitel „October 1849“lautet und als Reminiszenz auf den am 17. Oktober 1849 verstorbenen Frédéric Chopin verstanden werden kann – musikalisch spielt Liszt kurz auf Chopins Polonaise in As an – verbildlichen die tiefen, schweren Oktavschritte am Beginn den Eindruck eines gewichtigen Sarges, der geschultert zu werden hat.
Hier wird aber auch über den verlorenen Unabhängigkeitskrieg Ungarns 1848/49 getrauert: Liszt schreibt eine Paraphrase auf die Trauer schlechthin. Großartig ist das Werk, großartig war auch die Interpretation des französischen Star-Pianisten Alexandre Tharaud, der damit just am Todestag Chopins anlässlich des Augsburger Mozartfests im Kleinen Goldenen Saal gastierte. In den „Funérailles“zeigte er eine Klangwucht, Virtuosität, die staunen machte, dazu eine Vielfarbigkeit im Anschlag, die begeisterte, sowie im dichtesten Schichten-Gewühle analytische Transparenz.
Alexandre Tharauds pianistische Bandbreite war in jeder Hinsicht enorm, und dennoch wirkten seine
Kapazitäten nicht annäherungsweise ausgereizt. So auch in den vier Impromptus von Franz Schubert (D 899), die ebenfalls meisterhaft gespielt erklangen – wenn auch dynamisch nicht immer werkgetreu differenziert. Mit dem Marschrhythmus im ersten Impromptu in Es dockten sie an die „Funérailles“an. Der Mittelteil des vierten Stücks in As-Dur dann erhielt durch die Abstufung der Lautstärke eine beeindruckende Tiefenwirkung, und die ratternden Akkorde im Hintergrund wirkten wie galoppierender Pulsschlag.
Dem romantischen Part war mit französischer Cembalomusik des 17. und 18. Jahrhunderts eine für Klavierabende ungewöhnliche, aber nicht minder anspruchsvolle Programmhälfte vorangegangen. Die ornamentreiche Barockmusik ist dem Cembalo auf den Leib geschneidert. Wer sie auf dem modernen Flügel spielen will, muss sich entscheiden, ob er den Klang und die Eigenschaften des Originals möglichst übernehmen oder die Möglichkeiten des Flügels einbeziehen möchte. Alexandre Tharaud, der sein Programm übrigens aus den Noten spielte, wechselte zwischen beiden Positionen, je nach Charakter des Abschnittes und Stückes, trillerte, arpeggierte, ornamentierte schaumkronenhaft zierlich und galant wie ein Cembalist, schuf Klangebenen und verwandte reichlich – aber doch nicht zu viel – Pedal.
Überraschenderweise klangen manche Stücke plötzlich nach Debussy, der in seiner Umgehung des Wagnerschen Einflusses auch auf Alte Musik zurückgriff. Oder sie erinnerten an moderne Lounge-Klaviermusik wie in „Les barricades mysterieuses“von Couperin. Dabei begann Tharaud mit Musik aus der Zeit Louis XIV. und endete bei Louis XVI.: Jean-Baptiste Lullys kurzer „Marche pour la cérémonie des Turcs“aus Molières „Bürger als Edelmann“mit stilgerechter Terrassendynamik eröffnete die musikalische Chronologie, sein Amtserbe François Couperin folgte mit Werken seiner „Pièces de clavecin“. Auch hier faszinierte Alexandre
Tharaud durch formende Transparenz, strukturierende Schichtungen, gerade in der anspruchsvollen Passacaille 192.
Das virtuose Perpetuum mobile „Le Tic-Toc-Choc ou Les Maillotins“ist eigentlich für ein zweimanualiges Cembalo gedacht und auf dem Klavier umso schwerer zu spielen – grandios löste Tharaud diese Hürde und schuf durch geschickte Abstufung und brillantes Spiel die Illusion zweier Tastaturen. JeanPhilippe Rameaus anschließende Teile seiner Suite in A waren deutlich cembalistischer gestaltet und zeigten sich dadurch stilgerecht gewichtig, komplex und wunderbar stimmig.
In dieser Nachbarschaft, aus der Perspektive des eben aus dem französischen Barock aufgetauchten Hörers, wirkte das direkt anschließende „Modulierende Präludium“von Wolfgang Amadé Mozart erstaunlich traditionell. Auch hier faszinierte das formende Spiel Alexandre Tharauds, der die Architektur der Musik, entstanden wohl 1776/1777, offenlegte. Mozarts „Opener“endete so abrupt wie verschmitzt und leitete über zum zweiten Teil nach der Pause.
Ein besonderer und begeisternder Klaviernachmittag.