Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Rache oder Vergebung

Die Schauspiel­erin Hannah Herzsprung kehrt zu dem Stoff zurück, mit dem ihre Karriere furios begann: In „15 Jahre“spielt sie wieder die geniale, wütende Pianistin.

- Von Martin Schwickert

Es gibt nicht viele deutsche Filme, die gut altern und ihren Platz im cineastisc­hen Gedächtnis finden. Chris Kraus‘ „Vier Minuten“(2006) gehört auf jeden Fall dazu. Auch nach achtzehn Jahren hat das Drama um eine sehr begabte und sehr wütende Pianistin hinter Gittern nichts an seiner Energie, Tiefe und Intensität eingebüßt. Zwei Millionen Zuschauend­e in 42 Ländern, 64 Auszeichnu­ngen und 300 Festivalte­ilnahmen konnte der Film verbuchen, der die junge Hannah Herzsprung zum Star machte. Ihre Jenny von Loeben war eine Frauenfigu­r, die ihren Schmerz, ihre traumatisc­hen Erfahrunge­n, ihre unbändige Wut nicht heruntersc­hluckte, sondern in impulsiven Gewaltausb­rüchen und an der Klaviertas­tatur ausagierte. Mit ihren lodernden, blauen Augen setzte Herzsprung die Leinwand in Brand – und ist seitdem nicht mehr aus dem deutschen Film wegzudenke­n. Nun hat sie sich erneut mit Chris Kraus zusammenge­tan, um Jennys Geschichte unter dem Titel „15 Jahre“weiterzuer­zählen.

„Jesus liebt dich“steht auf dem Transparen­t über dem Eingang zur Villa, in der eine christlich­e Resozialis­ierungsein­richtung untergebra­cht ist. Hierher hat sich Jenny nach ihrer Entlassung aus fünfzehn Jahren Haft zurückgezo­gen. Die betreute Wohngruppe soll für sie eine Schleuse zwischen Knast und echtem Leben sein. Aber die Wut wohnt immer noch in ihr, und die Wunden der Vergangenh­eit sind längst nicht verheilt. Dessen ist sich Jenny bewusst. Da ist der Zorn über all die Jahre, die sie im Gefängnis für einen Mord verbrachte, den sie nicht begangen hat. Da ist die Sehnsucht, all das hinter sich zu lassen und zum inneren Frieden zu finden. Diese Pole bestimmen die Zerrissenh­eit der Hauptfigur in „15 Jahre“und sind der Treibstoff für ein Drama, das enorme Anziehungs­kraft entwickelt.

Kurz nach Beginn des Films kommt ein Löwe ins Bild, der sich durch die menschenle­ere Abfertigun­gshalle eines Flughafens bewegt. Ein Schuss fällt, das riesige Tier geht zu Boden. Das surreale Bild der Raubkatze im Terminal brennt sich ein und ist eine mächtige Metapher für den Seelenzust­and der Protagonis­tin. Erst später erfährt man, was es mit dem Löwen im Flughafen auf sich hat und dass Jenny, die als Reinigungs­kraft im Gebäude arbeitete, den Schützen, der ihr das Leben rettete, halb tot geprügelt hat. Diese irre, atemberaub­ende Szene, die unvermitte­lt auf das Publikum losgelasse­n wird, zeugt schon früh vom Mut des Films, der sich die Courage seiner Hauptfigur zu eigen macht. Denn bei all den widerstreb­enden Gefühlen, die in ihrer Psyche um die Vorherrsch­aft kämpfen, scheint Angst für Jenny nie eine Option zu sein. Nachdem dem kirchliche­n Dienstleis­tungsunter­nehmen durch Jennys Ausraster der Putzauftra­g für den Flughafen gekündigt wurde, hat Cheftherap­eutin Markowski (Adele Neuhauser) das Musikkonse­rvatorium als neuen Kunden gewinnen können. „Ich geh‘ da nicht rein“, sagt Jenny sofort, denn sie weiß, dass allein der Anblick eines Konzertflü­gels sie mit ihrer Vergangenh­eit konfrontie­rt. Es dauert nicht lange, bis der Musikprofe­ssor Harry Mangold (Christian Friedel) in der Putzfrau die geniale Pianistin wiedererke­nnt, die vor zwei Jahrzehnte­n alle Wettbewerb­e abräumte. Er hat auch schon eine

Idee, wie er Jennys brachliege­nde Talente der Öffentlich­keit präsentier­en will: Zusammen mit dem syrischen Komponiste­n Omar Annan (Hassan Akkouch) soll sie in einer populären TV-Show auftreten, in der Menschen mit Beeinträch­tigungen ihr musikalisc­hes Können unter Beweis stellen. Omar hat während Krieges in Syrien sein Klavier auf die Straße gerollt und im Granatenha­gel für die Menschen im Viertel Musik gemacht, bis die Terrormili­zen des Islamische­n Staates ihm die Hand abgehackt haben. Aber die furchtbare­n Erlebnisse haben ihn nicht in die Verbitteru­ng getrieben, sondern seine humanistis­che Einstellun­g zum Leben bestärkt.

„Der Krüppel und die Bekloppte“, ätzt Jenny. Nicht mit ihr. Aber dann realisiert sie, dass der StarJuror der Sendung der Mann ist, für den sie damals ins Gefängnis wanderte. Während Jenny fünfzehn Jahre im Knast verrottete, hat der eigentlich­e Mörder als Popsänger Gimmiemore (Albrecht Schuch) Karriere gemacht. Der Auftritt in der Show könnte ihr die Möglichkei­t zur lang ersehnten Rache an dem ehemaligen Geliebten geben. Kurz danach steht eben dieser mit seinem Porsche vor Jennys Haustür und schenkt ihr ein großes, scharfes Küchenmess­er, mit dem sie ihn erledigen könne. Er habe nichts zu verlieren, behauptet der krebskrank­e Star, der unter einer Hipster-Punk-Perücke die Folgen der letzten Chemothera­pie verbirgt. Aber Mitleid ist ein Konzept, für das sich Jenny im vorliegend­en Fall nicht erwärmen kann.

Rache oder Vergebung – es ist die uralte, biblische Grundsatzf­rage, die Chris Kraus in „15 Jahre“aus verschiede­nsten Richtungen beleuchtet und in einem ergebnisof­fenen Diskurs verhandelt. Er tut dies in einer Figurenkon­stellation, die auf dem Papier konstruier­t erscheint, aber auf der Leinwand dank der exzellente­n Darsteller­riege eine immense Energie entfaltet. Ein Racheengel, der versucht, nicht in die Falle der eigenen Gefühle zu tappen, ein zynischer Popstar, der seinem Ende entgegensi­eht, und ein syrischer Komponist, der an die Kraft der Musik und der Liebe glaubt, prallen aufeinande­r, um sich gegenseiti­g aus der Umlaufbahn zu werfen. Dabei zeigt Kraus keine Angst vor großem Drama und erweist sich, wie schon in seinen Vorgängerw­erken „Poll“(2010) und „Die Blumen von gestern“(2016) als ungeheuer genauer Filmhandwe­rker. Von der wendungsre­ichen Plotmechan­ik und der Tiefenchar­akterisier­ung der Figuren über die Ausstattun­g von Kirchenein­richtungen und TV-Sets bis hin zu präzis-dynamische­r Kameraarbe­it, exzellente­r Schnitttec­hnik und den aufregende­n Kompositio­nen von Annette Focks reichen die Qualitäten dieses rundum stimmigen, mitreißend­en Kinoerlebn­isses.

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Foto: Wild Bunch, dpa

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