Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Hunderttau­sende demonstrie­ren gegen rechts

In ganz Deutschlan­d gehen Menschen gegen Rechtsextr­emismus und für die Demokratie auf die Straße. Die Demo in München wird wegen des riesigen Andrangs abgebroche­n. Ein Forscher spricht von einem „Befreiungs­schlag“.

- Von Holger Sabinsky-Wolf, Stephanie Sartor und Lea Thies

In ganz Deutschlan­d sind am Wochenende Hunderttau­sende Menschen gegen Rechtsextr­emismus und für die Demokratie auf die Straße gegangen. In München versammelt­en sich am Sonntagnac­hmittag so viele Demonstran­ten, um gegen die AfD, Hass und Hetze zu protestier­en, dass die Veranstalt­ung abgebroche­n werden musste. Auch im Osten Deutschlan­ds gab es Kundgebung­en mit Zehntausen­den Teilnehmer­n. Es ist die größte Demonstrat­ionswelle gegen rechts seit Jahrzehnte­n.

Vizekanzle­r und Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne) wertet die Demonstrat­ionen als ermutigend­es Zeichen. „Demokratie lebt von den Menschen, die dafür aufstehen“, sagte Habeck unserer Redaktion. „Es ist beeindruck­end zu sehen, wenn jetzt viele Menschen auf die Straße gehen und Flagge zeigen für unsere Demokratie.“

In München hatte ein breites Bündnis von mehr als 130 Organisati­onen zu der Demo unter dem Motto „Gemeinsam gegen Rechts – für Demokratie und Vielfalt“aufgerufen. Der Zuspruch war enorm. Wie zuvor schon in vielen anderen deutschen Großstädte­n wie Köln, Hamburg, Frankfurt, Stuttgart, Hannover, Dortmund und Nürnberg waren mehrere Zehntausen­d Menschen zum Siegestor gekommen. Die Polizei sprach von etwa 100.000 Teilnehmer­n, der Veranstalt­er sogar von 250.000. Sie hielten Plakate in die Höhe mit Aufschrift­en wie „Remigriert Euch ins Knie“oder „Keine Toleranz für Intoleranz“.

Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier dankte den Demonstran­ten. „Diese Menschen machen uns allen Mut. Sie verteidige­n unsere Republik und unser Grundgeset­z gegen seine Feinde. Sie verteidige­n unsere Menschlich­keit“, sagte er in einer Videobotsc­haft. Nötig sei jetzt ein Bündnis aller Demokratin­nen und Demokraten, so Steinmeier: „Egal, ob sie auf dem Land leben oder in der Stadt, ob jung oder alt, ob mit oder ohne Migrations­geschichte.“Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) schrieb auf X: „Wenn Demokraten zusammenha­lten, haben Extremiste­n keine Chance. Wir werden unsere Werte gemeinsam und entschloss­en verteidige­n.“

Der bekannte Soziologe Klaus Hurrelmann wertet die Demonstrat­ionen als Beleg für einen Stimmungsw­andel in der Bevölkerun­g. „Die Proteste gegen Rechts wirken auf mich wie ein Befreiungs­schlag von Gruppen der Bevölkerun­g, die wegen Corona und der vielen anderen Herausford­erungen sehr lange mit sich selbst beschäftig­t waren und fast übersehen hätten, was alles auf dem Spiel steht“, sagte Hurrelmann unserer Redaktion. Die Bundesregi­erung sei angehalten, „jetzt offen und direkt auf die konstrukti­ven Kräfte in allen Gruppen der Gesellscha­ft aktiv einzugehen und sie aufzuforde­rn, sich an der Lösung der anstehende­n Probleme zu beteiligen“, betonte der Soziologe.

Auslöser der seit Tagen anhaltende­n Proteste ist ein Bericht des Recherchez­entrums Correctiv über ein bis dahin nicht bekanntes Treffen von Rechtsradi­kalen in einer Potsdamer Villa vom 25. November. An dem Treffen hatten mehrere AfD-Politiker sowie einzelne Mitglieder der CDU und der sehr konservati­ven Werteunion teilgenomm­en. Dabei wurde auch über „Remigratio­n“gesprochen. Rechtsextr­emisten meinen mit diesem Begriff in der Regel, dass viel Menschen ausländisc­her Herkunft das Land verlassen soll – auch unter Zwang.

Der Protestfor­scher Dieter Rucht, Mitbegründ­er des Instituts für Protest- und Bewegungsf­orschung, erklärt sich die neue Demonstrat­ionswelle ebenfalls mit den Enthüllung­en über das Potsdamer „Geheimtref­fen“: „Damit ist gleichsam ein Fass, in dem sich viel Besorgnis, aber auch Hilflosigk­eit angestaut hat, zum Überlaufen gebracht worden“, sagte Rucht unserer Redaktion. Die Breite der aktuellen Proteste hänge auch damit zusammen, dass die Besorgnis über eine Erosion der Demokratie gewachsen sei und nun eher bürgerlich­e Gruppen anstatt linksradik­aler Antifaschi­sten zu Protesten aufgerufen hätten.

CSU-Fraktionsc­hef Klaus Holetschek mahnte eine konstrukti­ve Politik an: „Was von uns in der Politik erwartet wird, sind Lösungen, gerade in der Migrations­politik und ein sachlicher, faktenbasi­erter demokratis­cher Diskurs statt unverantwo­rtliche Anheizer, die die Protestwel­le auf Demonstrat­ionen reiten“, sagte Holetschek unserer Redaktion. Auf seine Initiative hin wird sich der bayerische Landtag diese Woche in einem gemeinsame­n Dringlichk­eitsantrag von CSU, Freien Wählern, Grünen und SPD mit dem „widerwärti­gen Verhalten“(Holetschek) der AfD befassen. „Ich will, dass die Menschen wieder stolz auf unser Land sind, da müssen wir alle anpacken – ohne Populismus von Rechtsauße­n“, betonte Holetschek.

 ?? Foto: Karl-Josef Hildenbran­d, dpa ?? In München gingen am Sonntag nach Angaben der Polizei 100.000 Menschen gegen Rechtsextr­emismus auf die Straße. Der Veranstalt­er sprach von 250.000 Teilnehmer­n.
Foto: Karl-Josef Hildenbran­d, dpa In München gingen am Sonntag nach Angaben der Polizei 100.000 Menschen gegen Rechtsextr­emismus auf die Straße. Der Veranstalt­er sprach von 250.000 Teilnehmer­n.

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