Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Hunderttausende demonstrieren gegen rechts
In ganz Deutschland gehen Menschen gegen Rechtsextremismus und für die Demokratie auf die Straße. Die Demo in München wird wegen des riesigen Andrangs abgebrochen. Ein Forscher spricht von einem „Befreiungsschlag“.
In ganz Deutschland sind am Wochenende Hunderttausende Menschen gegen Rechtsextremismus und für die Demokratie auf die Straße gegangen. In München versammelten sich am Sonntagnachmittag so viele Demonstranten, um gegen die AfD, Hass und Hetze zu protestieren, dass die Veranstaltung abgebrochen werden musste. Auch im Osten Deutschlands gab es Kundgebungen mit Zehntausenden Teilnehmern. Es ist die größte Demonstrationswelle gegen rechts seit Jahrzehnten.
Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wertet die Demonstrationen als ermutigendes Zeichen. „Demokratie lebt von den Menschen, die dafür aufstehen“, sagte Habeck unserer Redaktion. „Es ist beeindruckend zu sehen, wenn jetzt viele Menschen auf die Straße gehen und Flagge zeigen für unsere Demokratie.“
In München hatte ein breites Bündnis von mehr als 130 Organisationen zu der Demo unter dem Motto „Gemeinsam gegen Rechts – für Demokratie und Vielfalt“aufgerufen. Der Zuspruch war enorm. Wie zuvor schon in vielen anderen deutschen Großstädten wie Köln, Hamburg, Frankfurt, Stuttgart, Hannover, Dortmund und Nürnberg waren mehrere Zehntausend Menschen zum Siegestor gekommen. Die Polizei sprach von etwa 100.000 Teilnehmern, der Veranstalter sogar von 250.000. Sie hielten Plakate in die Höhe mit Aufschriften wie „Remigriert Euch ins Knie“oder „Keine Toleranz für Intoleranz“.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dankte den Demonstranten. „Diese Menschen machen uns allen Mut. Sie verteidigen unsere Republik und unser Grundgesetz gegen seine Feinde. Sie verteidigen unsere Menschlichkeit“, sagte er in einer Videobotschaft. Nötig sei jetzt ein Bündnis aller Demokratinnen und Demokraten, so Steinmeier: „Egal, ob sie auf dem Land leben oder in der Stadt, ob jung oder alt, ob mit oder ohne Migrationsgeschichte.“Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) schrieb auf X: „Wenn Demokraten zusammenhalten, haben Extremisten keine Chance. Wir werden unsere Werte gemeinsam und entschlossen verteidigen.“
Der bekannte Soziologe Klaus Hurrelmann wertet die Demonstrationen als Beleg für einen Stimmungswandel in der Bevölkerung. „Die Proteste gegen Rechts wirken auf mich wie ein Befreiungsschlag von Gruppen der Bevölkerung, die wegen Corona und der vielen anderen Herausforderungen sehr lange mit sich selbst beschäftigt waren und fast übersehen hätten, was alles auf dem Spiel steht“, sagte Hurrelmann unserer Redaktion. Die Bundesregierung sei angehalten, „jetzt offen und direkt auf die konstruktiven Kräfte in allen Gruppen der Gesellschaft aktiv einzugehen und sie aufzufordern, sich an der Lösung der anstehenden Probleme zu beteiligen“, betonte der Soziologe.
Auslöser der seit Tagen anhaltenden Proteste ist ein Bericht des Recherchezentrums Correctiv über ein bis dahin nicht bekanntes Treffen von Rechtsradikalen in einer Potsdamer Villa vom 25. November. An dem Treffen hatten mehrere AfD-Politiker sowie einzelne Mitglieder der CDU und der sehr konservativen Werteunion teilgenommen. Dabei wurde auch über „Remigration“gesprochen. Rechtsextremisten meinen mit diesem Begriff in der Regel, dass viel Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen soll – auch unter Zwang.
Der Protestforscher Dieter Rucht, Mitbegründer des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung, erklärt sich die neue Demonstrationswelle ebenfalls mit den Enthüllungen über das Potsdamer „Geheimtreffen“: „Damit ist gleichsam ein Fass, in dem sich viel Besorgnis, aber auch Hilflosigkeit angestaut hat, zum Überlaufen gebracht worden“, sagte Rucht unserer Redaktion. Die Breite der aktuellen Proteste hänge auch damit zusammen, dass die Besorgnis über eine Erosion der Demokratie gewachsen sei und nun eher bürgerliche Gruppen anstatt linksradikaler Antifaschisten zu Protesten aufgerufen hätten.
CSU-Fraktionschef Klaus Holetschek mahnte eine konstruktive Politik an: „Was von uns in der Politik erwartet wird, sind Lösungen, gerade in der Migrationspolitik und ein sachlicher, faktenbasierter demokratischer Diskurs statt unverantwortliche Anheizer, die die Protestwelle auf Demonstrationen reiten“, sagte Holetschek unserer Redaktion. Auf seine Initiative hin wird sich der bayerische Landtag diese Woche in einem gemeinsamen Dringlichkeitsantrag von CSU, Freien Wählern, Grünen und SPD mit dem „widerwärtigen Verhalten“(Holetschek) der AfD befassen. „Ich will, dass die Menschen wieder stolz auf unser Land sind, da müssen wir alle anpacken – ohne Populismus von Rechtsaußen“, betonte Holetschek.