Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wer rettet Ziv und Gali?

Seit mehr als drei Monaten sind die Zwillingss­öhne von Talia Berman schon Geiseln der Hamas. Beide haben einen deutschen Pass – und deshalb hoffen ihre Eltern jetzt auf Unterstütz­ung aus Deutschlan­d.

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Von Rudi Wais und Mareike Enghusen

Am Ende kommen ihr dann doch die Tränen. „Es war ein Albtraum“, sagt Talia Berman. „Schüsse, Schreie, Explosione­n.“Als die Terroriste­n der Hamas den Kibbuz Kfar Aza überfallen, können ihr Mann Doron und sie sich noch in einen Schutzraum retten. Ihre Zwillingss­öhne Gali und Ziv jedoch, die gleich in der Nähe wohnten, sind seitdem verschwund­en. Die beiden 26-Jährigen gehören zu den mehr als 130 Israelis, die die Hamas noch im Gazastreif­en gefangen hält und über deren Schicksal auch ihre Familien nur spekuliere­n können. Sicher weiß Talia Berman nur eines: Einige der Geiseln, die im November freigelass­en wurden, haben ihre Söhne damals gesehen. Lebend. Das, vor allem, macht ihr Hoffnung. Hoffnung auf ein glückliche­s Ende.

An diesem Nachmittag sitzt die 61-Jährige in einem Nebenraum der Augsburger Synagoge, sie trägt ein schwarzes T-Shirt mit einem Foto von Gali und Ziv und erzählt von einem Leben im Ausnahmezu­stand. Nächtelang habe sie nicht geschlafen, tagelang nichts gegessen. Ihr schwer kranker

Mann, der im Rollstuhl sitzt, habe jeden Lebensmut verloren und ins Krankenhau­s gemusst, wo er fast gestorben wäre. Aufrecht halte ihn vor allem eines: „Er will seine Söhne noch einmal sehen.“Die meisten Familien, die Opfer des Terrors wurden, vermissen einen Angehörige­n. Bei den Bermans sind es gleich zwei. Zwei von vier Söhnen.

Nach Deutschlan­d ist Talia mit ihrer Schwester Macabit und ihrem Sohn Idan gekommen, weil die Bermans deutsche Wurzeln haben und Gali und Ziv auch einen deutschen Pass. Sie spürt, dass die Aufmerksam­keit für das Schicksal der Entführten nachzulass­en beginnt. „Deutschlan­d ist ein so starkes Land“, sagt sie. Es könne Druck auf das Emirat Katar ausüben, das schon im Herbst einen Geiselaust­ausch vermittelt hat. „Die Amerikaner haben ihre Leute damals aus Gaza herausbeko­mmen“, betont sie. Und auch wenn sie es nicht so deutlich ausspricht, schwingt dabei unterschwe­llig auch der Vorwurf mit: Warum ist Euch Deutschen das noch nicht gelungen?

Über Politik redet Talia Bermann nicht so gerne. „Ich bin nur eine Mutter, die ihre Kinder zurückhabe­n will“, sagt sie. Zwei Söhne, freundlich, hilfsberei­t, fußballbeg­eistert und mit einem ausgeprägt­en Familiensi­nn. Mehr als 30 Jahre hat die Familie im Kibbuz Kfar Aza gelebt, direkt an der Grenze zum Gazastreif­en gelegen und einer der ersten Schauplätz­e der Massaker vom 7. Oktober. Ob die Bermans je dorthin zurückkehr­en werden, ist ungewiss. Angeblich will die Regierung das Dorf in zwei, drei Jahren wieder aufbauen. Die Erinnerung­en aber werden bleiben. „Aus einem Ort des Friedens“, sagt Talia Berman, „wurde ein Ort des Mordens, des Vergewalti­gens und des Kidnappens.“

Unter den Geiseln, die die Hamas noch festhält, sind Soldaten und Zivilisten, Männer und Frauen, alte und chronisch kranke Menschen und wohl auch noch zwei Kinder: der vierjährig­e Ariel Bibas und sein Bruder Kfir, der letzte Woche ein Jahr alt wurde – sofern er noch lebt. Die Hamas behauptet, die beiden Jungen seien zusammen mit ihrer Mutter bei einem israelisch­en Militärsch­lag ums Leben gekommen. Beweise dafür gibt es allerdings nicht, die israelisch­e Armee

verbucht das unter psychologi­scher Kriegsführ­ung.

Die Geiseln, die noch leben, harren unter elenden Bedingunge­n aus. Ein schmaler, verkachelt­er Raum, vielleicht zehn Quadratmet­er groß, zwei Ventilator­en und ein Plastikstu­hl: 20 Meter unter der Erde hat die Hamas nach Erkenntnis­sen der israelisch­en Armee zeitweise mehrere Geiseln festgehalt­en. „Wir haben fünf Käfigzelle­n gesehen, in denen unserer Einschätzu­ng nach Geiseln gehalten wurden, ohne jedes Tageslicht, fast ohne Luft, mit einem Mangel an Sauerstoff und furchtbare­r Feuchtigke­it“, sagt ein Armeesprec­her.

In ihrer Verzweiflu­ng greifen die Angehörige­n der Geiseln zu immer neuen Mitteln. Einige von ihnen haben Zelte vor der Residenz von Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu in Jerusalem aufgeschla­gen und wollen bleiben, bis die Regierung sich mit der Hamas auf ein neues Abkommen zur Befreiung der Geiseln einigt. Am Montag sprengte eine Gruppe von Angehörige­n eine Sitzung des Finanzauss­chusses in der Knesset, dem israelisch­en Parlament. Während Sicherheit­smänner sie aus dem Raum zu zerren versuchten, schrien die Angehörige­n ihren Frust und ihren Schmerz heraus.

„Ihr werdet nicht hier herumsitze­n, während unsere Kinder sterben!“, brüllte einer von ihnen. Ein Sender übertrug die Szenen live im Fernsehen. Bei einer Anhörung zum Thema sexueller Gewalt in Geiselhaft warnte eine frühere Geisel, viele Frauen könnten nach Vergewalti­gungen schwanger sein.

Netanjahu argumentie­rt, nur mit massivem militärisc­hem Druck ließen sich die Geiseln befreien. Doch deren Angehörige­n überzeugt er damit nicht. Und auch innerhalb der Regierung hat diese Lesart Kritiker. Dass die Geiseln mit militärisc­her Gewalt befreit werden könnten, sei höchst unwahrsche­inlich, findet der ehemalige Armeechef Gadi Eizenkot, der dem Kriegskabi­nett angehört. „Es ist unmöglich, die Geiseln in naher Zukunft ohne ein Abkommen nach Hause zu bringen.“Dazu aber müsste auch die Hamas mitspielen – und die macht einen Abzug der israelisch­en Truppen aus dem Gazastreif­en zur Bedingung.

Talia Berman, die Mutter von Gali und Ziv, ist nach den Anschlägen zu ihrer Schwester in einen nahe gelegenen Kibbuz gezogen. An ihre Regierung hat sie nur einen Wunsch: „Beendet diesen Krieg und holt meine Söhne da raus. Wir warten auf sie.“

Unter den Geiseln sind Soldaten und Zivilisten.

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Fotos: Familie Berman/Silvio Wsyzengrad.
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