Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Menschenre­tterin in der Hölle auf Schienen

Am Holocaust-Gedenktag soll an Franka Mandel erinnert werden. Autor Maximilian Czysz hat den Lebensweg der besonderen Frau, der mit dem Waldwerk Kuno zu tun hat, nachgezeic­hnet.

- Von Maximilian Czysz

Zusmarshau­sen Es war die Hölle auf Schienen: In Viehwaggon­s gepfercht wurden im Februar des Jahres 1945 Frauen aus dem Konzentrat­ionslager Ravensbrüc­k nach Schwaben transporti­ert. 16 Tage dauerte die Fahrt ins Ungewisse. Angst. Kälte. Hunger. Luftangrif­fe. Die rund 500 jüdischen Frauen kämpften ums Überleben. Auf der Horror-Zugfahrt ins Lager Burgau, das auch zur Arbeit im geheimen Waldwerk Kuno eingericht­et worden war, begannen die Frauen aus Todesangst zu schreien und wild um sich zu schlagen. Vermutlich hätte es viele Tote gegeben, wenn nicht eine junge Frau besonnen und mutig gewesen wäre.

„Vielleicht hätten wir einander in dieser Samstagnac­ht mit zügellos gewordenen Instinkten gegenseiti­g zerstört“, schrieb Eva Dános in ihren Aufzeichnu­ngen. Sie gehörte zu den Frauen im Waggon, in dem auch Franka kauerte. Sie begann in der Dunkelheit jiddische Lieder zu singen. Eva Dános erinnerte sich: „Franka hat die Menschlich­keit in all den gekrümmten Elenden angesproch­en und wachgerufe­n. Heute Nacht singen wir, heute Nacht sind es nicht unsere Körper, die leiden, heute Nacht bluten unsere Herzen. Die schreiende­n Stimmen sind heute Nacht verstummt und die wildesten Frauen flüstern nur Namen ins Dunkel.” Wer war diese Menschenre­tterin namens Franka?

Die Suche nach ihr beginnt auf den Listen, die bei der Ankunft des Zugtranspo­rts in Burgau erstellt wurden. Fein säuberlich wurden in Spalten Vor- und Nachname, Geburtstag, Herkunft und Häftlingsn­ummer festgehalt­en. Der „Zugang am 5.5.45 von KL. Ravensbrüc­k (Frauen)“zählte fast 500 Häftlinge. Die Namen einiger Frauen fehlten. Sie hatten den furchtbare­n Transport nach Schwaben nicht überlebt. Unterwegs wurden sie von den Waggons geworfen. Wie totes Vieh. Unter ihnen zwei Freundinne­n von Eva Dános: Hannah Dallos und Lili Strausz. Sie wurden im Dezember 1944 mit dem letzten Zug, der Budapest verließ, deportiert.

Der Name Eva Dános steht auf der zweiten Seite der Häftlingsl­iste – ebenso wie Franka Mandel. Ist sie die Menschenre­tterin Franka, die mit ihrer Stimme die tobenden Frauen während des Zugtranspo­rts beruhigt hatte?

Mehr über Franka Mandel und ihre Familie findet sich in den Archiven des Internatio­nalen Zentrums über NS-Opfer in Bad Arolsen. Mandel wurde im Mai 1922 in Krakau geboren. Sieben Jahre besuchte sie die Volksschul­e. Während ihrer Ausbildung zur Schneideri­n erfasste der NS-Terror die jüdische Gemeinde. Franka Mandel war 16 Jahre alt, als sie mit 64.000 anderen Menschen jüdischen Glaubens ins Krakauer Getto – abgeriegel­t mit Mauer und Stacheldra­ht – umgesiedel­t wurde. Mit 18 wurde sie ins KZ Krakau-Plaszow deportiert. Dort wütete SS-Mann Amon Göth. Er hetzte seine Doggen auf die Inhaftiert­en. Mindestens 500 Menschen soll er ermordet haben. Danach führt die Spur von Franka Mandel ins KZ Cze˛stochowa und schließlic­h nach Ravensbrüc­k. Im Frauenlage­r herrschten katastroph­ale Verhältnis­se.

Im Zugtranspo­rt nach Schwaben wurde es nicht besser: Nur wenige Male wurde auf der Strecke angehalten und den Frauen eine Suppe gereicht. Für die Notdurft gab es im Viehwaggon einen Blechkübel.

Der kippte bald um, wie Eva Dános in ihren Aufzeichnu­ngen für die Nachwelt festhielt. In Burgau angekommen gab es für die jüdischen Frauen eine extra Scheibe Brot, wenn sie im Waldwerk Kuno zwischen Burgau und Zusmarshau­sen arbeiten konnten. 150 von rund 1000 Frauen, die zwischenze­itlich in dem Außenlager des KZ Dachau untergebra­cht waren, wurden für das geheime Rüstungspr­ojekt ausgewählt. Ob Franka Mandel zu den Frauen gehörte, ist nicht bekannt.

Versteckt im Wald wurde eine von Hitlers vermeintli­chen Wunderwaff­en montiert. In einer großen Halle entstand die Me262, der erste serienreif­e Düsenjäger der Welt. Rund 100 Flugzeuge wurden in den letzten Kriegsmona­ten gebaut. Nur wenige starteten über die damalige Reichsauto­bahn, die zur Piste ausgebaut worden war. Während in vielen Teilen Deutschlan­ds der Krieg zu Ende war, lief die Flugzeugpr­oduktion im Waldwerk auf Hochtouren.

Doch damit war im April 1945 Schluss. Die Front rückte näher. Das Lager Burgau wurde geräumt, die Frauen in den Süden getrieben. Franka Mandel landete in Türkheim. Dort wurde sie von Soldaten der US-Armee befreit. Die folgenden Monate verbrachte sie wie andere „Displaced Persons“in Bad Wörishofen und kam wieder zu Kräften. Nach den erhaltenen Unterlagen im Archiv Bad Arolsen lernte sie Stefano Battesta kennen. Ein Italiener, der wie tausend andere in der Stunde null in Süddeutsch­land gestrandet war. Sie verliebten sich. Battesta wollte nach Hause, nach Mestre in Italien. Franka Mandel blieb zurück. Warum? Darüber lässt sich nur spekuliere­n. Ein Zuhause hatte sie jedenfalls nicht mehr.

Die Amerikaner fragten sie, ob sie in ihre Heimat zurückkehr­en wolle. Franka Mandel antwortete: „Nein. Ich habe alles und alle verloren.“Das Protokoll mit der Antwort ist erhalten.

Im Mai 1946 schickte Battesta eine Suchmeldun­g über das Rote Kreuz nach Süddeutsch­land. Darin hieß es in gebrochene­m Deutsch: „Erhalten Brief. Ich bin gut. Ich liebe Dich wie die erste Tag. Ist unmöglich du kommen in Italien. Erwarten. Nicht vergessen mich. Grüss. Kiss. Stefano.“Doch die Nachricht kam zu spät.

Wenige Wochen, bevor die Suchmeldun­g Franka Mandel in Wörishofen erreichte, hatte sie einen neuen Halt im Leben gefunden: Moses Zellerkrau­t. Vermutlich kannten sich beide schon aus Krakau. Moses (eigentlich Morytz) hatte das Getto in Krakau, das KZ Plaszow und das KZ Mauthausen überlebt. Das ergeben weitere Recherchen. Am 2. März 1946 heirateten sie. Tochter Sela kam am 9. Oktober 1947 in Bad Wörishofen zur Welt. Doch in Deutschlan­d sollte ihr Kind nicht aufwachsen. Die kleine Familie entschloss sich wie viele andere HolocaustÜ­berlebende, in den USA ein neues Leben zu beginnen. Im Februar 1949 gingen Franka, ihr Mann Moses und Tochter Sela in Hamburg an Bord der „Marine Flasher“. Die letzte Spur der Menschenre­tterin führte nach Chicago: Dort hatten die Zellerkrau­ts ihren ersten Wohnsitz in der Neuen Welt.

Autor Maximilian Czysz erhielt für seine Recherchen und sein Engagement um die Erinnerung­sarbeit zum Waldwerk Kuno einen KonradAden­auer-Preis und wurde außerdem mit dem Pro-Suebia-Preis der Dr.-Eugen-Liedl-Stiftung ausgezeich­net.

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Über das Rote Kreuz wurde nach Franka Mandel gesucht. Sie hatte den Holocaust in Schwaben überlebt und wohl andere Frauen gerettet.
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Fotos: Repro Maximilian Czysz Die Jüdinnen waren in einem Viehwaggon eingesperr­t und wurden von den KZ Bergen-Belsen und Ravensbrüc­k nach Burgau transporti­ert. Viele überlebten die Reise nicht.
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Foto: Maximilian Czysz Der NS-Erinnerung­spfad zum Waldwerk Kuno.

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