Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Herr Rott geht einkaufen
Gerhard Rott lebt von Bürgergeld. Der Augsburger beklagt sich nicht, er sagt, er komme über die Runden. Aber wie, wenn alles teurer wird? Ein Supermarktbesuch.
Gerhard Rott weiß genau, was er will. Entschieden, fast forsch geht der Mann mit Mütze über das Supermarkt-Parkplatz-Grau, vorbei am Regal mit den Narzissen und Hyazinthen, die ihr Bunt noch in aufkeimenden Sprossen verbergen. Einen Einkaufswagen nimmt Rott heute nicht, er hat schon lange keinen mehr genommen. „Ganz einfach: Das lohnt sich nicht“, sagt Rott. Mit dem, was er einkaufe, könne er nicht mal den Boden des Einkaufswagens bedecken. Stattdessen hält Rott in seiner rechten Hand ein paar Münzen, es sind drei Euro, genau abgezählt. Er braucht einen Sack Kartoffeln, nicht mehr. Vielleicht, sagt er, mache er sich damit heute noch „was Feines, Püree oder Bratkartoffeln oder so was“. Es ist Gerhard Rotts 55. Geburtstag.
Augsburg gilt als ärmste Stadt Bayerns. Eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) bestätigt, dass sie diesen Ruf nicht umsonst hat. Demnach liegt das jährliche, preisbereinigte Einkommen pro Kopf bei etwa mehr als 20.800 Euro pro Jahr. Die Kaufkraft ist damit die geringste im Freistaat, der Wert liegt knapp 15 Prozent unter den Bundesdurchschnitt. Vergleichsweise hohe Preise treffen in Augsburg also auf relativ niedrige Einkommen. Was bedeutet das für jene, die mit dem absoluten Minimum zurechtkommen müssen?
Tür auf, Gerhard Rott bittet herein. Sein Appartement liegt im ersten Stock des Georg-Beis-Hauses, eine Apartment-Anlage des Sozialverbands SKM im Stadtteil Lechhausen. Hier finden Männer ein Zuhause, die lange obdachlos waren oder in prekären Situationen lebten. Gerhard Rott war so ein Mann. Eine Mischung aus Trauer, Druck und Enttäuschungen habe ihn vor einigen Jahren zuerst in eine Alkoholsucht, dann in die Arbeitslosigkeit geführt, sagt er. „Ich war ganz weit unten, da war Pfandflaschensammeln noch das kleinste Problem.“Er habe ein „geprägtes Leben hinter sich“.
Doch er hat sich berappelt. Der Alkohol ist, wie er sagt, „im Griff“– was wohl auch daran liegt, dass Rott auf den 25 Quadratmetern im Georg-Beis-Haus eine Heimat gefunden hat. Raum für Überfluss gibt es dort nicht, wohl aber für die Spuren eines schlichten Lebens: Bad und Küchenzeile reichen für das Nötigste, an der Wand hängen ein Holzkreuz, ein Poster des 1997 erschienenen Films „Titanic“– und ein Schwarz-Weiß-Bild, auf dem ein Paar zu sehen ist. „Wenn mich meine lieben Eltern nicht so bescheiden erzogen hätten, würd’s mir heute ganz anders gehen. Viel schlechter.“Er könne sich mit wenig zufriedengeben. „Und das muss ich ja auch.“
Rott ist ausgebildeter Bäcker und Konditor. Als eine Art berufliche Wiedereingliederung ist er derzeit in einer Tagesstätte der Caritas tätig. Dies, sagt er, helfe ihm „enorm“. Die übliche „Motivationsprämie“, die er dort pro Stunde erhält, liegt aber unter einem Euro – und reicht so bei Weitem nicht aus, um einen Lebensunterhalt zu finanzieren. Rott bekommt deshalb Bürgergeld, von dem nach seinen Angaben unter anderem Stromkosten abfließen. Pro Tag blieben ihm so, schätzt er, in etwa 15 Euro zur Verfügung. Rund ein Fünftel davon geht für Zigaretten drauf. Ja, ja, er wisse schon, sagt Rott, aber nach seiner Alkoholsucht habe er es noch nicht geschafft, vom Tabak wegzukommen. Auch das 49 Euro teure Deutschlandticket leiste er sich, er nutze es auch intensiv. „Das ist für mich eigentlich die einzige Möglichkeit, so was wie Urlaub zu machen und was von Deutschland zu sehen. Auch wenn’s finanziell schon sehr weh tut natürlich.“Was bleibt da noch für das tägliche Leben?
Rott nimmt am kleinen Holztisch in seinem Apartment Platz, verschiedene Supermarktprospekte vor sich, Brille auf, Notizblock und Stift parat. „Da zum Beispiel – Essiggurken, minus 50 Prozent, super. Da würde ich ein Glas mitnehmen“, sagt Rott, als er hoch konzentriert durch den Prospekt blättert. Und so steht fest: Bald wird es bei Rott irgendetwas mit Essiggurken geben. „Mein Speiseplan richtet sich komplett nach den Angeboten“, sagt er. Grundnahrungsmittel wie Zucker, Reis, Milch oder Nudeln müssten immer da sein, „da gibt’s Bevorratung“. Die Entscheidung, was darüber hinaus gegessen werde, liege an dem, was der Prospekt zu bieten habe. Maßgeblich sei dabei meist der Preis pro Kilo, nicht pro Packung. Und so weiß Rott quasi auf den Cent genau, wie sich die Preise für manche Lebensmittel verändern. „Au ja, schauen S’, Hackfleisch in der XXL-Packung – so günstig war das schon lange nicht mehr. Vielleicht gibt’s mal wieder Fleischküchle.“Er werde das Hackfleisch dann mit seinem Kumpel von nebenan teilen, für die ganze Packung reiche die Gefriertruhe nicht.
Kleine Erfolgserlebnisse wie diese sind seltener geworden. Dass viele Preise zuletzt nach oben gingen – Stichwort Inflation –, macht sich für Menschen wie Rott umso deutlicher bemerkbar. „Kaffee ist brutal teuer geworden, auch der lösliche“, sagt der 55-Jährige. Aber auch Milchprodukte allgemein – „ein guter Käs’ gehört doch zu einer anständigen Brotzeit dazu“– oder Wurst hätten „deutlich angezogen“. Eine Tiefkühlpizza sei für ihn „Luxus“, beim Supermarkt nebenan kostet sie momentan 4,69 Euro. Letztens habe er sich dann aber doch eine genommen, zumindest die kleine, für 2,49 Euro im Angebot. „Das hab’ ich mir gegönnt.“Sonst halte er aber nicht viel von Tiefkühlkost. Süßigkeiten esse er grundsätzlich keine, das habe ihm die Zeit als Konditor „mit Krapfen und dem ganzen Zeug“verdorben, Gemüse und Joghurt gebe es in der Regel bei entsprechenden Aktionen. Auch abseits von Lebensmitteln sei vieles teurer geworden. Ein Beispiel: „Rasierklingen – mei o mei“.
Rott – entschiedener Gang, schwarz-weiß karierte Jacke am Leib – geht vorbei an den Narzissen und Hyazinthen, die er so gerne mag, aber zu teuer sind, und betritt den Supermarkt. Es ist kein Discounter, das muss aber auch nicht sein. Gerade die Eigenmarken von Rewe und Co. bewegten sich häufig auf demselben Preisniveau wie Lidl und Co., sagt Rott. Zumal er hier und heute nur Kartoffeln braucht. Wenn er sonst, meist zweimal die Woche, einkaufen geht, kommt schon mehr in den Korb.
Aber eigentlich nie mehr als das, was auf dem Zettel steht. „Da liegt mein Fokus, alles andere schaue ich flüchtig an“, sagt Rott. Er disponiere nur um, wenn es eines der Angebote auf dem Zettel nicht mehr gebe. „Dann muss ich reagieren.“Und so legt Rott für jeden Einkauf eine individuelle Route fest. In diesem Supermarkt beginnt jede gleich rechts, am Obst- und Gemüseregal. An der Wursttheke nebenan geht er meist schnell vorbei, beim Brot greift er oft zu abgepackten Schnitten – „knapper Euro, reicht fast die ganze Woche, wunderbar“. Danach geht es meistens relativ schnell, bis Rott die Punkte auf der Liste abgehakt hat. „Ich bin meistens relativ schnell durch.“
Rott reiht sich in der Schlange an der Kasse ein. Vor ihm zahlt eine Frau mit gemachten Fingernägeln, die so lang sind, dass sie Schwierigkeiten hat, ihre PIN einzugeben. Spontan legt sie noch einen Kaugummi aufs Band, ihr Einkaufswert liegt etwa zehnmal so hoch wie der von Rott. Was geht ihm durch den Kopf, wenn er sieht, wie Menschen scheinbar achtlos Geld ausgeben, ausgeben können? „Wissen S’“, sagt Rott, „manche geben ihr Geld schon ohne große Gedanken aus. Aber wenn sie meinen, dass sie sich die ganzen Sachen kaufen wollen, dann sollen sie’s tun.“
Er wolle sich nicht beklagen, bekomme von sozialen Einrichtungen wie dem SKM viel Hilfe und auch mal ein warmes Essen, sei zu Bescheidenheit erzogen worden, die lieben Eltern. „Das Gute ist: So, wie ich lebe, entsteht so gut wie kein Müll, weggeworfen wird garantiert kein Lebensmittel. So kann man’s doch auch sehen.“Früher, als er noch Flaschen gesammelt habe, habe er in Mülleimern „Dinge gesehen, die glaubt man gar nicht. Was die Leute wegschmeißen – abartig, da blutet mir das Herz.“
Wenn die berufliche „Wiedereingliederung“abgeschlossen ist, will Rott so schnell wie möglich so normal wie möglich arbeiten, am liebsten in „seinem“Fachbereich. Eine neue Stelle ab Frühjahr hat er schon in Aussicht. Was er dann machen würde, mit ein bisschen mehr Geld? „Tierpark wäre schön“, sagt Rott. Er überlegt kurz – und setzt dann wieder an: „Puppenkiste, Kino, Botanischer Garten, Sauna oder Thermalbad, Minigolf, Essengehen, vielleicht eine Bratensulz oder ein Zwiebelrostbraten. Mir würde schon was einfallen damit“, sagt er. Und lacht.
„Mein Speiseplan richtet sich komplett nach den Angeboten.“
„Was die Leute wegschmeißen – abartig.“