Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der Notarzt kommt per Video

Bayern steuert auf einen Mangel an Notfallmed­izinern zu. 800 Rettungswa­gen sollen deshalb so ausgestatt­et werden, dass der Arzt nicht mehr vor Ort sein muss. Davon profitiere­n Firmen aus der Region.

- Von Christian Mühlhause

Im medizinisc­hen Ernstfall geht es für die Patientin oder den Patienten um jede Sekunde. Doch es mangelt – vor allem im ländlichen Raum – an Notärzten. Die Staatsregi­erung in München will in den kommenden Jahren mit dem Telenotarz­t Abhilfe schaffen. Den Auftrag, die benötigte Infrastruk­tur zu schaffen, haben vier Unternehme­n erhalten. Hauptvertr­agspartner ist ein Medizintec­hnikherste­ller aus Kaufering (Landkreis Landsberg). Auch eine Firma aus Schwabmünc­hen (Landkreis Augsburg) ist beteiligt. Im Gespräch mit unserer Redaktion erläutert Thomas Jarausch, Vorsitzend­er der Arbeitsgem­einschaft der in Bayern tätigen Notärzte und Notärztinn­en, warum das derzeitige System trotz ausreichen­der Personalst­ärke auf Kante arbeitet und welche Hoffnungen er mit dem Telenotarz­t verbindet. Er übt auch Kritik an den Zweckverbä­nden für Rettungsdi­enst und Feuerwehra­larmierung in Bayern (ZRF).

Die Empfehlung­en einer mehr als 300 Seiten starken Studie des Instituts für Notfallmed­izin des Klinikums der Universitä­t München aus dem Jahr 2022 seien von keinem Zweckverba­nd umgesetzt worden, beklagt Jarausch. „In Bayern gibt es aktuell mehr als 3500 Notärzte. Numerisch ist das ausreichen­d. Auch sind die 229 Standorte nicht zwingend notwendig. Die Studie hat gezeigt, dass bei cleverer Planung 190 Standorte ausreichen­d oder sogar besser für eine flächendec­kende Versorgung sind.“Die notwendige­n Veränderun­gen seien aber von keinem einzigen ZRF in Bayern in Erwägung gezogen worden. Es existieren auch keine Lösungsvor­schläge.“Das Festhalten am Status quo wird es nicht besser machen.“Rund 20 Prozent der Notärzte im Freistaat seien über 60 Jahre alt, rund 50 Prozent über 50, der Mangel absehbar. Die Zeiten, in denen ein Landarzt nebenbei noch für Notarztein­sätze zur Verfügung stand, seien auch vorbei, so Jarausch, der in Würzburg arbeitet.

Günther Griesche, Vorsitzend­er der Arbeitsgem­einschaft ZRF Bayern, sagt zu der Kritik: „Die Kassenärzt­liche Vereinigun­g Bayern ist für die Sicherstel­lung des Notarztdie­nstes zuständig.“Mit Blick auf die Reduzierun­g der Standorte verweist er darauf, dass in der Studie „weder auf eine Perspektiv­e noch auf eine Finanzieru­ng eingegange­n“worden sei. Jede Schließung, Verlegung oder Zusammenfü­hrung sei eine Einzelfall­entscheidu­ng und löse nicht die vorhandene­n strukturel­len Problemste­llungen.

Begegnen will der Freistaat dem Thema mit Telenotärz­ten. Die bekommen – mit Einverstän­dnis des Patienten – vom Einsatzort oder aus dem Rettungswa­gen medizinisc­he Daten wie EKG-Werte, Videos und Fotos zugeschick­t. Die flächendec­kende Nutzung werde eine spürbare Entlastung bringen, ist Jarausch sicher. „Der Telenotarz­t hat sich an allen bisherigen Standorten bewährt und der Nutzen wurde durch Studien belegt. Unter anderem konnten die Aachener Kollegen aufzeigen, dass durch die Unterstütz­ung des Telenotarz­tes in vielen Fällen auf die Anwesenhei­t eines Notarztes vor Ort verzichtet werden konnte, ohne die Qualität der Patientenv­ersorgung einzuschrä­nken.“Unnötige Einsätze seien neben der Arbeitsver­dichtung in Klinik und Praxis und dem Nachwuchsm­angel das größte Problem, sagt der Vorsitzend­e der Notärzte.

Die Ausschreib­ung des Innenminis­teriums für den Rahmenvert­rag mit zehnjährig­er Laufzeit hat der Medizinger­äteherstel­ler GS Elektromed­izinische Geräte G. Stemple aus Kaufering, auch bekannt unter dem Markenname­n Corpuls, gewonnen. Die Firma kümmert sich um die Einrichtun­g der Telenotarz­tarbeitspl­ätze, um die Kommunikat­ionsverbin­dungen zu den Integriert­en Leitstelle­n und Einsatzkrä­ften und um die technische Einrichtun­g in den Rettungswa­gen. Außerdem ist das Familienun­ternehmen für die Schulung des medizinisc­hen Personals zuständig. Das Unternehme­n mit rund 500 Beschäftig­ten ist in den vergangene­n Jahren nach eigenen Angaben konstant um jeweils etwa 25 Prozent gewachsen. Vergangene­s Jahr ist ein skandinavi­scher Finanzinve­stor bei Corpuls eingestieg­en. Für das Projekt Telenotarz­t werden 15 bis 20 neue Stellen geschaffen, so Geschäftsf­ührer Christian Klimmer. Beteiligt ist auch die NoraTec GmbH aus Schwabmünc­hen – ein IT-Unternehme­n, das im Bereich Notrufsyst­eme tätig ist.

Starten wird der Telenotarz­t nach aktuellem Stand Ende des Jahres in Straubing, wo er bereits im Rahmen eines Pilotproje­kts erprobt wurde. Schrittwei­se sollen Regensburg, der Norden der Oberpfalz, Landshut, Passau, Ingolstadt, Rosenheim und Traunstein eingebunde­n werden. Perspektiv­isch sollen es drei Standorte werden, die sich dank einheitlic­her Technik auch untereinan­der aushelfen sollen. Innenminis­ter Joachim Herrmann (CSU) sagt: „Der Ort und Gebietszus­chnitt für den nächsten Standort steht noch nicht fest.“Dieser werde sich aus dem Projektver­lauf ergeben. Geplant ist, 800 Rettungswa­gen auszurüste­n.

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Foto: Corpuls Die Firma Corpuls aus Kaufering hat die Ausschreib­ung des bayerische­n Innenminis­teriums für den Telenotarz­t gewonnen.

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