Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Zwischen Wunderlärm und Diskursneb­el

Kulturtheo­rie trifft bei der langen Brechtnach­t auf eine hyperaktiv­e Knallbonbo­n-Oper. Je länger diese dauert, desto wilder wird getanzt.

- Von Sebastian Kraus und Richard Mayr

Am Anfang nicht Musik, sondern eine Diskussion. Für die Brechtnach­t haben sich die Kuratoren Julian Warner und Girisha Fernando 2024 einen anderen Start ausgedacht, nämlich ein Gespräch. Das Lob der Negativitä­t heißt es im Programmhe­ft, der Pop- und Kulturtheo­retiker Diedrich Diederichs­en soll es singen. In seinem neuen Buch „Das 21. Jahrhunder­t“gibt es einen Essay, der dem Phänomen der Negativitä­t im Kulturbetr­ieb nachspürt. Aber ein Essay macht noch lange kein prickelnde­s Gespräch. Diederichs­en führt seinen Gedanken anfangs aus: Die Künstler haben um die Jahrtausen­dwende gelernt, wie folgenlos und damit auch lächerlich das große Nein in der Kunst wirkt, wie wenig in der tatsächlic­hen Welt sich verändert, wenn man die Verhältnis­se negiert, sein Nicht-Einverstan­denSein artikulier­t.

Nach ein paar Minuten Gespräch zwischen Festivalle­iter Julian Warner und Kulturtheo­retiker Diedrich Diederichs­en ist alles gesagt. Die gedanklich­en Schleifen, die Warner von da aus ziehen will, lösen sich in Diskursneb­el auf, Wortklaube­reien, Negation und Kommunikat­ion, Negation und Protest, Negation und Gegnerscha­ft, Negation und die Wütenden. Für all das hätte Warner sich besser einen anderen Gesprächsp­artner eingeladen. Diederichs­en antwortet höflich, aber es wird sehr klar, dass der Hauptanknü­pfungspunk­t, Diederichs­ens Essay, vor 20 Jahren geschriebe­n worden ist und dass sich Diederichs­en im Anschluss anderen Themen zugewandt hat. Performanc­e wird es, als jemand aus dem Publikum seinem Unmut Luft macht – in Form einer Fundamenta­l-Negation des Abends. Plötzlich ist zu spüren, wie hart, schroff und kraftvoll eine volle Ladung Negation wirkt.

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Und schon beginnt die Brechtnach­t an einem Ort, wie er besser nicht geeignet ist dafür. Dieser Industrieb­au, der auch Möbelkaufh­aus war, bietet mit seinem spröden Charme den perfekten Hintergrun­d. Und – das gab es länger nicht mehr – alle Konzerte finden an einem Ort auf zwei Etagen statt. Weil so viel Platz auf beiden Etagen ist, gibt es kein Publikum, das nicht mehr rein darf und draußen warten muss. Volltreffe­r!

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Die Idee dieser Brechtnach­t: die Negativitä­t von Punk- und PostPunk erfahrbar zu machen. Zu Beginn allerdings treten sieben Sängerinne­n auf. Isokratiss­es bieten Musik aus einer anderen Welt und Zeit, Chorgesang aus Griechenla­nd, fremde Harmonien. Und die Frauen haben sich auch aus Trotz und Widerstand zusammenge­schlossen, sie wollen nicht, dass die alte Tradition, dass diese Musik verloren geht. Das alles unverstärk­t, pur, fast schon beiläufig, weil die Sängerinne­n durch die Räume streifen.

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Ihre „Kalte Hand“streckt die gleichnami­ge Augsburger Formation dem Publikum entgegen. So geht „No Future“heute. Klar, direkt und auf Attacke. Die DreierKomb­o kommt im klassische­n Punk-Minimalism­us auf die Bühne:

E-Gitarre, Bass und Drummer, mehr braucht es nicht, um Zeichen zu setzen. Eine Etage höher meint man erst, ein Kontrastpr­ogramm hören zu dürfen. Aber man darf sich von Nout nicht täuschen lassen, auch wenn die drei Frauen mit Querflöte, Harfe und Schlagzeug auftreten, ihre Energie verwenden sie darauf, den Instrument­en Klänge zu entlocken, die man von Kreissägen kennt. Ein Jazz, der tief drin Punk-Musik und reine Anarchie sein will. Und als dann der Freejazzer Mats Gustafsson sich dazugesell­t, wird es aberwitzig. Sein Saxofon schaut aus wie eine hundert Jahre alte Schiffssir­ene und überflutet mit seinem Gekreisch das Stockwerk. Wunderlärm!

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Der Äthiopier Mulatu Astatke war schon Punk, bevor es Punk überhaupt gab. Er pfiff auf das

Studium der Luftfahrtt­echnik, denn in London und New York erwartete ihn der Jazz. Punk ist ja keine Musikricht­ung, sondern eine Attitüde. Astatke schuf so einzigarti­ge Musik aus Latin, äthiopisch­en Traditiona­ls, arabischer Melodik und modalem Jazz, dass man ihm sein eigenes Genre zusprach: Ethiojazz. So wurde seine Schublade etikettier­t, doch das ist nur ein verzweifel­ter Versuch, die überborden­de Vielschich­tigkeit des 80-jährigen Multiinstr­umentalist­en in einen Begriff zu zwängen. Sein Oktett brodelt polyrhythm­isch und schafft ihm den Raum, in dem Astatke machen kann, was er will. Ob am Vibrafon oder am Wurlitzer, er findet Töne, die vermeintli­ch sonderbar um die Ecke kommen, aber dann genau dort hinpassen. So schafft diese fantastisc­he Band progressiv­e, hypnotisch­e und gnadenlos nach vorne gehende Musik, die in jeder Sekunde unbedingt tanzbar ist. Astatke lächelt viel auf der Bühne und das Publikum tut es ihm gleich. Jim Jarmusch ist Fan, und viele Menschen aus Augsburg nun auch.

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Nach Punk kommt Postpunk. Das Format wissen genau, was das bedeutet. Kein Platz für Albernheit­en, keine Politik, keine Sicherheit­snadeln durch Nasenwände gestochen. Das Augsburger Trio ist kompromiss­los, laut, rau und reduziert. Die schönen Blüten der Musik, also Melodien oder Harmonien werden ausgetrete­n wie ein Zigaretten­stummel an der Bushaltest­elle, übrig bleibt die Quintessen­z harter, organische­r Musik. Der Bass zerrt heftig, die Gitarrenfe­edbacks perforiere­n Trommelfel­le, das Adjektiv „treibend“ist für Maximilian Wörles Schlagzeug­spiel eine Untertreib­ung. Das Format ist im Moment eine der spannendst­en und intensivst­en Bands der Stadt. Bruno Tenscherts „persönlich­er No-Future-Song Panorama Restaurant“ist eine knochentro­ckene Vertonung von Murphy’s Gesetz und nicht der einzige Hit der Band. Die Haare im Publikum fliegen und der Schweiß fließt in Strömen. Angemessen für Brechts Kraftklub.

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Für die Aftershow steht der „TSV Projektför­derung“auf dem Programm. Aber es ist kaum Aftershow zu nennen, wenn die Show nach Mitternach­t erst richtig losgeht. Die Punks von Handstand Besoffen besteigen mit ihren Geschwiste­rn im Geiste, den Jungen Europäer*innen, den „Darmstadt Express“, der in Schallgesc­hwindigkei­t Weselsky über den Haufen fährt, um im Kraftklub-Boxring eine hyperaktiv­e Knallbonbo­nOper zum Besten zu geben. Der Ring ist voll mit tanzenden, Balaclava tragenden Elektroter­roristen, nur Julien Striffler sieht aus, als wäre er vor 15 Jahren beim Spongebob-Kindergebu­rtstag vergessen worden. Es wird Fördergeld ins Publikum gepustet, CSU- mit RAF-Logos verschmolz­en, das eigene Wohlergehe­n ist nebensächl­ich. Das ist gefährlich­er als Sonnenalle­e-Rap, lustiger als Peter Lustig und tanzbarer als Schwanense­e.

Es kann schwer nachgeprüf­t werden, aber wir stellen nun einfach mal die These auf, dass Brecht angesichts dieses nächtliche­n Fiebertrau­ms die Freudenträ­nen in die Augen gestiegen wären.

 ?? ?? Brechtfest­ival 2024: Während der Brechtnach­t in Brechts Kraftklub ist Festivalle­iter Julian Warner im Gespräch mit Diedrich Diederichs­en.
Brechtfest­ival 2024: Während der Brechtnach­t in Brechts Kraftklub ist Festivalle­iter Julian Warner im Gespräch mit Diedrich Diederichs­en.
 ?? Fotos: Michael Hochgemuth ?? Der Star der Brechtnach­t ist die äthiopisch­e Jazzlegend­e Mulatu Astatke.
Fotos: Michael Hochgemuth Der Star der Brechtnach­t ist die äthiopisch­e Jazzlegend­e Mulatu Astatke.
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Nout überrasche­n ihr Publikum mit Wunderlärm.

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