Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Zwischen Wunderlärm und Diskursnebel
Kulturtheorie trifft bei der langen Brechtnacht auf eine hyperaktive Knallbonbon-Oper. Je länger diese dauert, desto wilder wird getanzt.
Am Anfang nicht Musik, sondern eine Diskussion. Für die Brechtnacht haben sich die Kuratoren Julian Warner und Girisha Fernando 2024 einen anderen Start ausgedacht, nämlich ein Gespräch. Das Lob der Negativität heißt es im Programmheft, der Pop- und Kulturtheoretiker Diedrich Diederichsen soll es singen. In seinem neuen Buch „Das 21. Jahrhundert“gibt es einen Essay, der dem Phänomen der Negativität im Kulturbetrieb nachspürt. Aber ein Essay macht noch lange kein prickelndes Gespräch. Diederichsen führt seinen Gedanken anfangs aus: Die Künstler haben um die Jahrtausendwende gelernt, wie folgenlos und damit auch lächerlich das große Nein in der Kunst wirkt, wie wenig in der tatsächlichen Welt sich verändert, wenn man die Verhältnisse negiert, sein Nicht-EinverstandenSein artikuliert.
Nach ein paar Minuten Gespräch zwischen Festivalleiter Julian Warner und Kulturtheoretiker Diedrich Diederichsen ist alles gesagt. Die gedanklichen Schleifen, die Warner von da aus ziehen will, lösen sich in Diskursnebel auf, Wortklaubereien, Negation und Kommunikation, Negation und Protest, Negation und Gegnerschaft, Negation und die Wütenden. Für all das hätte Warner sich besser einen anderen Gesprächspartner eingeladen. Diederichsen antwortet höflich, aber es wird sehr klar, dass der Hauptanknüpfungspunkt, Diederichsens Essay, vor 20 Jahren geschrieben worden ist und dass sich Diederichsen im Anschluss anderen Themen zugewandt hat. Performance wird es, als jemand aus dem Publikum seinem Unmut Luft macht – in Form einer Fundamental-Negation des Abends. Plötzlich ist zu spüren, wie hart, schroff und kraftvoll eine volle Ladung Negation wirkt.
***
Und schon beginnt die Brechtnacht an einem Ort, wie er besser nicht geeignet ist dafür. Dieser Industriebau, der auch Möbelkaufhaus war, bietet mit seinem spröden Charme den perfekten Hintergrund. Und – das gab es länger nicht mehr – alle Konzerte finden an einem Ort auf zwei Etagen statt. Weil so viel Platz auf beiden Etagen ist, gibt es kein Publikum, das nicht mehr rein darf und draußen warten muss. Volltreffer!
***
Die Idee dieser Brechtnacht: die Negativität von Punk- und PostPunk erfahrbar zu machen. Zu Beginn allerdings treten sieben Sängerinnen auf. Isokratisses bieten Musik aus einer anderen Welt und Zeit, Chorgesang aus Griechenland, fremde Harmonien. Und die Frauen haben sich auch aus Trotz und Widerstand zusammengeschlossen, sie wollen nicht, dass die alte Tradition, dass diese Musik verloren geht. Das alles unverstärkt, pur, fast schon beiläufig, weil die Sängerinnen durch die Räume streifen.
***
Ihre „Kalte Hand“streckt die gleichnamige Augsburger Formation dem Publikum entgegen. So geht „No Future“heute. Klar, direkt und auf Attacke. Die DreierKombo kommt im klassischen Punk-Minimalismus auf die Bühne:
E-Gitarre, Bass und Drummer, mehr braucht es nicht, um Zeichen zu setzen. Eine Etage höher meint man erst, ein Kontrastprogramm hören zu dürfen. Aber man darf sich von Nout nicht täuschen lassen, auch wenn die drei Frauen mit Querflöte, Harfe und Schlagzeug auftreten, ihre Energie verwenden sie darauf, den Instrumenten Klänge zu entlocken, die man von Kreissägen kennt. Ein Jazz, der tief drin Punk-Musik und reine Anarchie sein will. Und als dann der Freejazzer Mats Gustafsson sich dazugesellt, wird es aberwitzig. Sein Saxofon schaut aus wie eine hundert Jahre alte Schiffssirene und überflutet mit seinem Gekreisch das Stockwerk. Wunderlärm!
***
Der Äthiopier Mulatu Astatke war schon Punk, bevor es Punk überhaupt gab. Er pfiff auf das
Studium der Luftfahrttechnik, denn in London und New York erwartete ihn der Jazz. Punk ist ja keine Musikrichtung, sondern eine Attitüde. Astatke schuf so einzigartige Musik aus Latin, äthiopischen Traditionals, arabischer Melodik und modalem Jazz, dass man ihm sein eigenes Genre zusprach: Ethiojazz. So wurde seine Schublade etikettiert, doch das ist nur ein verzweifelter Versuch, die überbordende Vielschichtigkeit des 80-jährigen Multiinstrumentalisten in einen Begriff zu zwängen. Sein Oktett brodelt polyrhythmisch und schafft ihm den Raum, in dem Astatke machen kann, was er will. Ob am Vibrafon oder am Wurlitzer, er findet Töne, die vermeintlich sonderbar um die Ecke kommen, aber dann genau dort hinpassen. So schafft diese fantastische Band progressive, hypnotische und gnadenlos nach vorne gehende Musik, die in jeder Sekunde unbedingt tanzbar ist. Astatke lächelt viel auf der Bühne und das Publikum tut es ihm gleich. Jim Jarmusch ist Fan, und viele Menschen aus Augsburg nun auch.
***
Nach Punk kommt Postpunk. Das Format wissen genau, was das bedeutet. Kein Platz für Albernheiten, keine Politik, keine Sicherheitsnadeln durch Nasenwände gestochen. Das Augsburger Trio ist kompromisslos, laut, rau und reduziert. Die schönen Blüten der Musik, also Melodien oder Harmonien werden ausgetreten wie ein Zigarettenstummel an der Bushaltestelle, übrig bleibt die Quintessenz harter, organischer Musik. Der Bass zerrt heftig, die Gitarrenfeedbacks perforieren Trommelfelle, das Adjektiv „treibend“ist für Maximilian Wörles Schlagzeugspiel eine Untertreibung. Das Format ist im Moment eine der spannendsten und intensivsten Bands der Stadt. Bruno Tenscherts „persönlicher No-Future-Song Panorama Restaurant“ist eine knochentrockene Vertonung von Murphy’s Gesetz und nicht der einzige Hit der Band. Die Haare im Publikum fliegen und der Schweiß fließt in Strömen. Angemessen für Brechts Kraftklub.
***
Für die Aftershow steht der „TSV Projektförderung“auf dem Programm. Aber es ist kaum Aftershow zu nennen, wenn die Show nach Mitternacht erst richtig losgeht. Die Punks von Handstand Besoffen besteigen mit ihren Geschwistern im Geiste, den Jungen Europäer*innen, den „Darmstadt Express“, der in Schallgeschwindigkeit Weselsky über den Haufen fährt, um im Kraftklub-Boxring eine hyperaktive KnallbonbonOper zum Besten zu geben. Der Ring ist voll mit tanzenden, Balaclava tragenden Elektroterroristen, nur Julien Striffler sieht aus, als wäre er vor 15 Jahren beim Spongebob-Kindergeburtstag vergessen worden. Es wird Fördergeld ins Publikum gepustet, CSU- mit RAF-Logos verschmolzen, das eigene Wohlergehen ist nebensächlich. Das ist gefährlicher als Sonnenallee-Rap, lustiger als Peter Lustig und tanzbarer als Schwanensee.
Es kann schwer nachgeprüft werden, aber wir stellen nun einfach mal die These auf, dass Brecht angesichts dieses nächtlichen Fiebertraums die Freudentränen in die Augen gestiegen wären.