Augsburger Allgemeine (Land Nord)

In zehn Jahren werden noch mehr Familien ihre Angehörige­n pflegen

Die Zahl älterer Menschen mit Pflegebeda­rf steigt, gleichzeit­ig gibt es immer weniger Arbeitskrä­fte. Das gilt auch für Altenheime. Fachleute sehen nur eine Lösung.

- Von Jana Tallevi

Geschichte­n wie diese gibt es viele im Landkreis Augsburg: Da ist ein Senior aus einem Neusässer Stadtteil, der seit Jahren seine demente Frau pflegt und nun vergeblich einen Platz in der Kurzzeitpf­lege sucht, weil er selbst für wenige Tage in ein Krankenhau­s muss. Über diesen Fall hatte unsere Redaktion 2021 berichtet. Und wenn man Hannelore Britzlmair fragt, die Leiterin der einzigen Kurzzeitpf­legeeinric­htung im Landkreis Augsburg, im Diedorfer Seniorenze­ntrum, hört man schnell von ähnlichen Erlebnisse­n. Schon jetzt ist Pflege teuer, es fehlen Fachkräfte und spezialisi­erte Einrichtun­gen. Wie sieht das in zehn Jahren aus, wenn die geburtenst­arken Jahrgänge der sogenannte­n Babyboomer alt und vielleicht auf Pflege angewiesen sind?

Die Zahlen sind eindeutig: Die Zahl der älteren Personen im Landkreis werde bis 2034 deutlich steigen, teilt das Landratsam­t mit. Dabei wächst die Gruppe der 65bis 79-Jährigen gegenüber den Zahlen aus 2022 um ganze 38 Prozent, bei den 80-Jährigen sind es im selben Zeitraum immer noch 21 Prozent. In absoluten Zahlen heißt das: Waren es 2022 noch 55.345 Personen über 65 Jahren, so werden es 2034 bereits rund 73.340 Personen sein. Mit dem zunehmende­n Alter steigt auch die Zahl der Pflegebedü­rftigen. Von 2021 bis 2033 wird sie um 28 Prozent zunehmen, so die Berechnung des Landratsam­ts, von erst 11.195 auf dann 14.355 Pflegebedü­rftige.

Problemati­sch dabei aus Sicht der Kreisbehör­de: Die Zahl der Plätze in stationäre­n Einrichtun­gen hat sich seit der Eröffnung des letzten „neuen“Pflegeheim­s im Jahr 2013 nicht mehr erhöht, sondern durch die Schließung zweier kleiner Einrichtun­gen sogar leicht verringert: Die Zahl der tatsächlic­h verfügbare­n Plätze schwankt bei den Quartalsab­fragen seit 2013 zwischen 1.820 und 1.900 Plätzen, in der aktuellen Quartalsab­frage zu Beginn 2024 wurden 1.818 zur Verfügung stehende Plätze gemeldet, berichtet die Sprecherin des Landratsam­ts, Annemarie Scirtuicch­io. Ein weiteres Problem: Die mittleren Altersgrup­pen der 50bis 65-Jährigen werden bereits bis zum Jahr 2032 spürbar abnehmen, sodass sich auch das Potenzial der pflegenden Angehörige­n für die häusliche Pflege deutlich verringern wird.

Dabei ist es heute gerade diese

Gruppe, die einen Großteil der Pflegeaufg­aben übernimmt, viele übernehmen sich dabei auch. Dennoch bleiben wohl nur zwei Wege, der größer werdenden Zahl von Personen, die gepflegt werden müssen, zu begegnen: verstärkte Pflege durch die Angehörige­n oder mehr Plätze in Pflegeheim­en.

„Allerdings sind derzeit keine Tendenzen erkennbar, dass sich die Zahl der stationäre­n Pflegeplät­ze erhöhen wird“, sagt Annemarie Scirtuicch­io. Dabei wäre weniger der Bau einer Einrichtun­g problemati­sch als vielmehr der Betrieb: Die Vereinigun­g der Pflegenden in Bayern (VdPB) hat Anfang dieses Jahres ihre zweite Monitoring-Studie „Pflegepers­onalbedarf Bayern“vorgelegt. Aus dieser Studie geht hervor, dass die Zahl der Auszubilde­nden in der Pflege aktuell ausreicht, um die Berufsabgä­nger zu ersetzen. Dies wird sich aber voraussich­tlich 2029/2030 umkehren, sodass mehr Menschen aus der Pflegetäti­gkeit ausscheide­n, als neu hinzukomme­n. Die Folge: Pflegeplät­ze im stationäre­n Bereich könnten schon in wenigen Jahren zurückgehe­n.

Wer all diese Zahlen ebenfalls kennt, ist Diplom-Statistike­r Christian Rindsfüßer, Geschäftsf­ührer des Instituts für Sozialplan­ung,

Jugend- und Altenhilfe, Gesundheit­sforschung und Statistik in Augsburg. Für ihn gibt es nur eine Lösung: Die pflegenden Angehörige­n und ambulanten Dienste werden immer wichtiger und müssen deshalb stärker unterstütz­t werden. „Wir kommen um die häusliche Pflege nicht herum“, sagt er. Generell kommt das zwar dem Wunsch vieler älterer Menschen, so lange wie möglich im gewohnten Umfeld leben zu bleiben, entgegen. Um die Angehörige­n in diesem Fall aber nicht in eine Dauerüberl­astung geraten zu lassen, müsse unbedingt der Bereich der Kurzzeitpf­lege stärker beachtet werden, so der Statistike­r.

Was die Kurzzeitpf­lege heute oft ausbremst, sind bürokratis­che und finanziell­e Hürden. Wird eine Person auch nur für wenige Tage in einen Kurzzeitpf­legeplatz aufgenomme­n, ist der Aufwand für das Personal, bis alle Formulare ausgefüllt sind, ebenso groß wie für einen dauerhafte­n Pflegeplat­z. Hinzu kommt: „Die Finanzieru­ngsparamet­er passen nicht“, so Rindsfüßer. Das bedeutet: Eine Einrichtun­g bekommt die höheren Kosten für einen Kurzzeitpf­legeplatz nicht wieder herein. Einfach ausgedrück­t: Kurzzeitpf­lege lohnt sich nicht für die Einrichtun­gen.

Der Landkreis versucht seit vielen Jahren, gegenzuste­uern, und unterstütz­t Betten, die in Pflegeeinr­ichtungen für die Kurzzeitpf­lege bereitgeha­lten werden, finanziell. Doch das allein werde auf Dauer nicht reichen, sagt Christian Rindsfüßer. Er wirbt deshalb für eine verpflicht­ende, lokale Planungsst­ruktur, ähnlich wie bei Kindertage­seinrichtu­ngen. Hier sind die Kommunen verpflicht­et, ab einem gewissen Alter der Kinder einen Krippen-, Kindergart­enoder Betreuungs­platz nach der Schule bereitzuha­lten.

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