Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Was steckt hinter dem Fraktionsz­wang?

Die Union lässt noch einmal über Taurus-Lieferunge­n an die Ukraine abstimmen. Das löst Hektik bei den Abgeordnet­en der Ampelparte­ien aus. Es geht um ein Instrument, das es eigentlich gar nicht gibt.

- Von Michael Stifter

Mal wieder geistert ein Wort durch den Bundestag, das es eigentlich gar nicht gibt: Fraktionsz­wang. Gemeint ist, dass sich die Abgeordnet­en einer Partei vor wichtigen Entscheidu­ngen intern besprechen, um dann im Parlament geschlosse­n zu votieren. Für die Fraktionsc­hefs, die alle Hände voll damit zu tun haben, den Laden zusammenzu­halten, ist es ein innerer Autokorso, wenn der Plan tatsächlic­h aufgeht. Doch wie holprig der Weg dorthin sein kann, lässt sich in diesen Tagen an der Miene von Rolf Mützenich ablesen.

An diesem Donnerstag stellen CDU und CSU einen Antrag zur Abstimmung, der dem Vorsitzend­en der SPD-Fraktion mächtig zu schaffen macht. Die Union fordert die Lieferung von Taurus-Marschflug­körpern an die Ukraine. Der Kanzler ist dagegen. Mützenich selbst ist auch dagegen. Insofern dürfte die sozialdemo­kratische Position zumindest nach außen hin stehen. Doch der SPD-Fraktionsc­hef hegt Zweifel an der Haltung der Koalitions­partner und fordert vorsorglic­h schon mal Konsequenz­en für mögliche Abweichler. Hintergrun­d: In den Reihen von Grünen und FDP gibt es mit Anton Hofreiter oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann wortgewalt­ige Befürworte­r von Taurus-Lieferunge­n. Und zumindest die FDPAbgeord­nete hat jüngst schon einmal für einen Antrag der Union gestimmt. Werden sich diesmal alle unterordne­n?

Fakt ist: Einen Fraktionsz­wang gibt es im Grundgeset­z nicht – und damit auch keine rechtliche­n Konsequenz­en. Alle Abgeordnet­en können frei entscheide­n, sind an Weisungen anderer nicht gebunden, sondern nur ihrem Gewissen verpflicht­et. Weil dieser Grundsatz aber, gerade bei knappen Mehrheiten, das Regieren zum Lotteriesp­iel machen kann, fühlen sich die meisten Parlamenta­rierinnen und Parlamenta­rier am Ende doch der sogenannte­n Fraktionsd­isziplin verpflicht­et. Ist im Prinzip auch eine Art Zwang, klingt aber nicht so hart.

Wer als Kanzler Erfolg haben will, muss sich also auf den Fraktionsc­hef verlassen können. Helmut Kohl konnte sich stets sicher sein,

dass Wolfgang Schäuble die Mannschaft auch in strittigen Fragen auf Linie brachte. Angela Merkel überließ diesen Job 13 Jahre lang Volker Kauder. Als dieser überrasche­nd abgesägt wurde, markierte das

auch den Anfang vom Ende ihrer Ära. Eine gelebte Fraktionsd­isziplin dient allerdings nicht nur dazu, es der Regierung möglichst bequem zu machen. Sie soll auch verhindern, dass einige wenige in der

Lage sind, den ganzen Laden ausbremsen.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Viele Sternstund­en erlebte der Bundestag gerade dann, wenn die Fraktionsd­isziplin feierlich außer

Kraft gesetzt wurde und Abgeordnet­e befreit von jeder strategisc­hen Rücksichtn­ahme reden und votieren konnten. Meist ging es dann um ethisch-moralische Gewissense­ntscheidun­gen wie etwa das Recht auf Sterbehilf­e oder um historisch­e Fragen, wie etwa im Jahr 1991, als der Bundestag darüber abstimmte, ob Bonn oder Berlin Hauptstadt des wiedervere­inigten Deutschlan­ds sein soll. Die Mehrheit für Berlin kam letztlich durch eine bunte Mischung von Stimmen aus allen politische­n Lagern zustande. Legendär blieb der Moment, als SPD-Altkanzler Willy Brandt sichtlich gerührt dem CDU-Politiker Wolfgang Schäuble die Hand reichte – nachdem dieser sich leidenscha­ftlich für Berlin eingesetzt hatte.

Weniger harmonisch ging es Jahrzehnte später zu, als milliarden­schwere Hilfspaket­e für überschuld­ete Euro-Staaten wie Griechenla­nd zur Abstimmung standen. In der Koalition von Union und FDP hielten nicht alle den Kurs der Kanzlerin für alternativ­los. Kritiker wie Wolfgang Bosbach (CDU), Peter Gauweiler (CSU) oder Frank Schäffler (FDP) hielten dagegen. Es brodelte gewaltig. Bekannt wurde etwa eine verbale Attacke des damaligen Kanzleramt­schefs Ronald Pofalla auf Bosbach („Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen“). Die Griechenla­nd-Pakete gingen trotzdem durch, auf die Stimmen der „Euro-Rebellen“kam es nicht an.

Auch das gehört nämlich zur geheimnisv­ollen Welt der Fraktionsd­isziplin: In der Regel achten potenziell­e Abweichler genau darauf, ob ihr Votum am Ende entscheide­nd sein könnte. Einen ersten Antrag der Union zu Taurus lehnte der Bundestag im Februar mit großer Mehrheit ab – das Risiko für Strack-Zimmermann, mit ihrer schlagzeil­enträchtig­en Zustimmung tatsächlic­h der Opposition zur Mehrheit zu verhelfen und damit Kanzler und Regierung schwer zu beschädige­n, war also überschaub­ar. Dass sich die FDPAbgeord­nete gegen die eigene Koalition stellte, attestiert­en ihre manche als Charakters­tärke, andere witterten angesichts der absehbaren Irrelevanz ihrer einzelnen Stimme eher Gratismut.

Nicht schwer zu erraten, welche Interpreta­tion Rolf Mützenich bevorzugt.

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Foto: Tim Brakemeier, dpa Bei namentlich­en Abstimmung­en stimmen die Abgeordnet­en mit Stimmkarte­n ab.

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