Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ewald Arenz: Alte Sorten (66)

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Roman von Ewald Arenz

Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgäng­erinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiede­nheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrsc­ht reagiert.

© 2019 DuMont Buchverlag, Köln

Es konnte ja nicht so weit sein. Scheiße, sie musste das einfach schaffen, ohne dass sie der Polizei begegnete. Oder… nein… vielleicht wäre das gar nicht so schlecht. Sie könnte ihnen sagen, dass sie auf dem Weg war, um jemanden… ja, was? Davon abzuhalten, sich umzubringe­n? Noch mal Scheiße! Sie wusste ja gar nicht, ob Liss wirklich dort war. Es war das Einzige, was ihr eingefalle­n war. Das Einzige, was ihr erlaubte, nicht auf dem Hof zu stehen und zu warten, bis alles vorbei war. Sie fuhr jetzt, was das Motorrad hergab. Das Atmen fiel ihr schwer. Ihre Hände wurden immer kälter. Sie fror vor lauter Aufregung, und der Fahrtwind machte es nicht besser. Jeden Atemzug musste sie zitternd vor Anstrengun­g in die Lungen pumpen und atmete immer viel zu schnell wieder aus. Wo war das Kaff? Wo waren sie hochgefahr­en? Als das Ortsschild in Sicht kam, wurde sie langsamer, aber sie konnte sich nicht an den Namen erinnern, vielleicht hatte sie den damals auch gar nicht mitgekrieg­t. Die Kirche. Man musste die Kirche sehen können. Die war oben am Berg gelegen. Sie rollte jetzt ziemlich langsam durch den Ort, bis sie endlich zwischen den Häusern die Kirchturms­pitze entdeckte. Die Altstadt kam, und nun erkannte sie auch den Platz wieder, auf dem sie geparkt hatten. Sie ratterte über das Kopfsteinp­flaster und die Gasse hoch zum Eingang des Kirchhofs. Zitternd vor Kälte und Aufregung sprang sie vom Motorrad, lehnte es an die Mauer, rannte durch die offen stehende Pforte und blieb stehen, als hätte man ihr mit der Faust auf die Brust geschlagen. Da lag das Fahrrad. Sie hatte recht gehabt. Da lag ihr Fahrrad im Gras zwischen den welken Blättern. Liss war hier. Und jetzt? Sollte sie einfach rufen? Aber vielleicht war das genau das Falsche. Vielleicht brachte sie sich dann noch schnell um, weil sie nicht wollte, dass man sie… vielleicht war sie schon tot. Wie lange war sie schon da? Wie lange konnte sie schon… vielleicht lag sie einfach bei den Knochen und ihr Kopf in einem See von Blut das hatte sie mal gesehen da war Oskar der lustige Oskar in der sechsten Klasse war das auf dem Geländer im dritten Stock rumgehampe­lt sechste Klasse erst in den Schacht gefallen am Ende der Pause gleich nach dem Gong in den Treppensch­acht gefallen und der Kopf wie ein Ei aufgeschla­gen in einem See von Blut so ein dunkler See… stopp. Stopp!

Sie zwang sich, Luft zu holen.

Ganz kurz ging sie in die Knie, stützte die Hände auf das taufeuchte, kalte Pflaster und atmete. Dann stand sie auf und ging auf die Kapelle zu, in der Liss sein musste.

Das Gittertor war angelehnt. Es war dunkel bis auf das Licht, das von draußen in den Gang fiel. Sally ging ein paar Schritte hinein.

„Liss?“Sie sagte es ganz ruhig. Wenn Liss… wenn sie noch lebte, wollte sie sie nicht erschrecke­n. Aber es kam keine Antwort. „Liss?“

Vorsichtig trat sie noch ein paar Schritte näher. Sie war jetzt dort, wo sich der Gang zu der Gruft erweiterte. Die Tausende Knochen glänzten schwach. Da war niemand, aber weil die Mauern vorsprange­n, konnte sie nicht sehen, ob Liss vielleicht rechts oder links an der Rückwand war.

„Liss?“

Nichts. Augen zu. Augen auf. Jetzt. Sie ging in den Raum hinein, stellte sich vor die Knochen und drehte sich dann um. Liss saß in der Ecke. Regungslos. „Geh weg.“

„Hallo, Liss.“

Sie wusste nicht, was sie sonst sagen konnte.

„Geh weg“, sagte Liss noch einmal dumpf. „Ich will nicht, dass du dabei bist.“

„Liss!“

Sally wusste immer noch nicht, was sie sagen sollte. Jetzt verfluchte sie sich für ihre Blödheit. Sie hätte die Polizei anrufen sollen. Sie hatte keine Ahnung, was man sagen, tun, nicht tun sollte. Sie hatte nicht nachgedach­t.

Liss saß mit dem Rücken an der Wand und hatte die Pistole im Schoß.

Ihr Haar war wirr, und sie sah verwüstet aus, als hätte sie tagelang nicht geschlafen. Hatte sie wohl auch nicht.

„Ich kann jetzt nicht mehr weggehen.“

„Eigentlich ist es auch egal“, sagte Liss tonlos und hob die Pistole.

„Nein!“, schrie

Nein!“

Sally. „Nein!

Sie wollte springen, rutschte auf dem feuchten Boden aus, fiel vor Liss schwer hin, wartete schon im Fallen entsetzt auf den Knall und schlug mit dem Kopf auf.

Sie stöhnte. Der Schmerz schoss ihr scharf bis in die Nase. Irgendwie funktionie­rten bei Liss die Reflexe, die man anscheinen­d immer hat. Erschrocke­n griff sie nach ihrem Arm, zu spät, um sie aufzufange­n, aber trotzdem. Und Sally griff nach der Pistole, ohne nachzudenk­en. Sie griff nach der Pistole, hatte den Lauf in der Hand und riss daran; immer noch vor Liss auf dem Boden liegend. Überrascht, aber dennoch sehr schnell hielt Liss sie fest und versuchte, sie Sally wieder zu entreißen.

„Ich lass nicht los!“, schrie Sally in verzweifel­ter Wut. „Vergiss es! Ich lass die Scheißpist­ole nicht los! Gib sie mir!“

Liss sagte nichts, aber sie rang mit ihr um die Waffe. Sally hatte jetzt auch die zweite Hand frei und umklammert­e Liss’ Handgelenk.

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