Augsburger Allgemeine (Land West)
Ihre Aufmerksamkeit, bitte!
Gesellschaft Wir leben im Zeitalter der Zerstreuung: Angebote und Ablenkung überall. Das ist nicht nur eine Behelligung für jeden Einzelnen, sondern auch ein soziales und sogar politisches Problem
Nein, es geht hier nicht nur mal wieder um all die Jugendlichen jeden Alters, Stöpsel in den Ohren, Blick nach unten aufs Smartphone und ständig daran rumfingernd, die von ihrer direkten Umwelt doch gar nichts mehr mitbekommen. Es geht um viel mehr und damit um etwas, das den grassierenden Autismus des digitalisierten Lebens als Symptom eines Problems erklärt, das uns alle angeht. Es geht ganz grundlegend um etwas sehr Wertvolles, über das wir alle verfügen, meist ohne uns dessen bewusst zu sein. Es geht um unsere Aufmerksamkeit.
Sie ist die Nahrung all unserer Beziehungen – aber sie ist auch die wichtigste Ressource für die Wirtschaft und das entscheidende Kapital der Politik. Unendlich viel Geld wird ausgegeben, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, zahllose Experten von Hirnforschern über Supermarktdesignern bis zu Werbetextern arbeiten daran. Denn unsere Aufmerksamkeit bringt dem, der sie zu bündeln versteht, Geld und Macht. Das Ergebnis ist eine seit Jahrzehnten stetig wachsende und immer mehr Kanäle findende Ansprache unserer Sinne – witzig oder verführerisch, aufrüttelnd oder rätselhaft, versteckt oder marktschreierisch. Kein Zufall, vielmehr ein wunderbar sprechendes Bild, dass die Luxuslounge auf einem Flughafen sicher auch feines Geschirr und leckeres Essen zu bieten hat, vor allem aber elegante schlichte Räume und Stille – während die Welt draußen optisch und akustisch trubelt.
In den öffentlichen Verkehrsmitteln der koreanischen Metropole Seoul strömt sogar schon der Duft von Kaffee und Backwaren aus der Belüftung, kurz bevor eine Haltestelle mit einer Filiale der für diesen Reiz bezahlenden Bäckerei-Kette erreicht wird. Und im amerikanischen Massachusetts gibt es einen Schulbezirk, der die Rückseite von Zeugnissen und Arbeitsblättern als Werbeflächen anbietet. Armes Ich im Zeitalter der Totalvermarktung! Gegen solche Ablenkungen und Zerstreuungsangebote helfen nicht einmal mehr Ohrstöpsel und Smartphone-Blick.
Aber die fortlaufenden Ansprachen an unsere Aufmerksamkeit sind eben noch viel mehr als bloß anstrengend. Das beschreibt der US-Philosoph Matthew Crawford sehr erhellend in seinem Buch „Die Wiedergewinnung des Wirklichen“. wie jede Ressource wird auch unsere Aufmerksamkeit besonders wertvoll gerade dadurch, dass sie nur begrenzt vorhanden ist. In jedem einzelnen Moment, aber auch insgesamt. Das heißt: Wer Auto fährt und dabei telefoniert (und sei es über Sprechanlage), fährt weniger aufmerksam; wer den ganzen Tag Reizen auf Bildschirmen folgt, hat womöglich nur wenig Möglichkeit, sich seinen Mitmenschen zu widmen. Und in der Konsequenz: Zum einen geht durch die ständige Zerstreuung im oft ja schon instinktiven Reagieren auf all die ausgetüftelten Ansprachen unserer Sinne die Fähigkeit zur Konzentration verloren – wir können kaum noch lediglich eines tun und denken, erst recht nicht über eine längere Zeit hinweg. Zum anderen lässt die sinnliche Daueransprache durch Gewöhnung unsere Reaktionsschwelle steigen. Unsere Wahrnehmung stumpft ab, was wiederum zu gesteigerten Stra- tegien zur Gewinnung unserer Aufmerksamkeit führt. Wir befinden uns im Krieg um unseren Verstand, eigentlich ohne es zu merken.
Die Langzeitfolgen sind gleich mehrfach fatal – und zwar für unsere individuelle Lebensgestaltung, unseren sozialen Zusammenhalt und die Demokratie.
Das Ich
Der Mensch verliert im Trubel all der Möglichkeiten zunächst sich selbst. Freiheit ist nur noch die Freiheit der Auswahl aus Produkten, die als Ausdruck unserer Persönlichkeit angepriesen werden. Die Angebote gaukeln uns vor, jederzeit der sein zu können, der wir sein wollen. Die Person aber wird so zu einem immer nur vorläufigen und stets austauschbaren Puzzle aus einem Katalog – und damit zum Gegenteil des Individuums. Immer schwieriger wird es, Zeiten der Konzentration, Stille und Nachdenkens zu bewahren, die doch wesentlich sind für das Bilden und die Bildung einer Person, wesentlich auch für das Finden von Sinn und für die Fähigkeit zur Liebe. Denn (auch unbewusst) gedrillt vom stetigen Zirkus der angebotenen Sensationen erscheint solche Zeit sehr schnell als anstrengend, fruchtlos und leer.
Das Wir
Dem Menschen kommt die Welt abhanden. Das gilt für ein immer flüchtigeres Verhältnis zu den Dingen, die bald bloß noch Konsumgüter mit Verfallsdatum sind. Das breite Sterben des unrentabel gewordenen klassischen Handwerks ist dafür ein Indiz. Das gilt aber auch für die Natur, deren Erlebnis höchstens noch als Freizeitpark mit Event-Charakter attraktiv ist – die Ausbeutung der Ressourcen und die Verscherbelung des Tiers zur Ressource der Fleischindustrie Zeichen für das Absterben eines LebensDenn zweiges. Und das gilt für das menschliche Miteinander, wo Beziehungen verflachen, der andere nur noch Teil der Umwelt ist. Begegnung wird immer unwahrscheinlicher, Kennenlernen erscheint als anstrengend und womöglich unrentabel – zu den Indikatoren gehört die Kommunikation in den Sozialen Netzwerken, die Stars mit ihren Klickzahlen, Internet-Suchmaschinen, die inzwischen die wertvollsten Konzerne der Welt sind. So droht uns die unmittelbare Wirklichkeit abhandenzukommen, weil Jahrmarktsgeschrei auf allen Kanälen auf uns einlärmt.
Der Staat
Gefährlich kann das Zeitalter der Zerstreuung im umfassenderen Sinne werden, weil die in ihm herrschenden Prinzipien ein Problem für die Demokratie werden könnten. Das beginnt schon damit, dass auch die Medien in der Verbreitung der Informationen und damit dem Verkauf ihrer Produkte im Wettkampf mit dem sonstigen Buhlen um unsere Aufmerksamkeit stehen. Inhalte? Sind kompliziert. Und nur selten sensationell genug für den Marktschrei. Erfordern Konzentration. Naheliegender Ausweg: Das Gefühl der Menschen muss angesprochen werden, die Mittel werden drastischer, die Wertungen kerniger, Sensationalisierungen Normalität. So kann für das Verkaufen der Nachricht ihr Abstand zur Wirklichkeit auch hier wachsen. Der Demokrat wird nicht auf dem Boulevard gebildet – dort gewinnt die Parole. Wenn der Wähler also immer weniger die Konzentration und das Nachdenken auf sich nimmt, wird auch hier die Verpackung entscheiden und nicht die Qualität des Inhalts. So was verkauft sich schlecht, wie auch unbequeme Schritte und komplexe Programme. So kann das Zeitalter der Zerstreuung die Hochzeit der einfachen Lösungen, der großen Versprechen und der Personenpolitik werden. Wenn beides zusammenkommt, stehen die Chancen, dass es im Sinne der Demokratie geschieht, nicht sehr gut.
Das alles legt nahe: Es ist sehr wichtig, dass wir unsere begrenzte Menge an Aufmerksamkeit als so wichtig und wertvoll zu nehmen lernen, wie sie tatsächlich ist: von der Gestaltung des einzelnen Lebens bis zum Gelingen des Staates.
Matthew B. Crawford: Die Wiedergewinnung des Wirklichen. Übers. Stephan Gebauer, Ullstein, 432 S., 24 ¤