Augsburger Allgemeine (Land West)

Ihre Aufmerksam­keit, bitte!

Gesellscha­ft Wir leben im Zeitalter der Zerstreuun­g: Angebote und Ablenkung überall. Das ist nicht nur eine Behelligun­g für jeden Einzelnen, sondern auch ein soziales und sogar politische­s Problem

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Nein, es geht hier nicht nur mal wieder um all die Jugendlich­en jeden Alters, Stöpsel in den Ohren, Blick nach unten aufs Smartphone und ständig daran rumfingern­d, die von ihrer direkten Umwelt doch gar nichts mehr mitbekomme­n. Es geht um viel mehr und damit um etwas, das den grassieren­den Autismus des digitalisi­erten Lebens als Symptom eines Problems erklärt, das uns alle angeht. Es geht ganz grundlegen­d um etwas sehr Wertvolles, über das wir alle verfügen, meist ohne uns dessen bewusst zu sein. Es geht um unsere Aufmerksam­keit.

Sie ist die Nahrung all unserer Beziehunge­n – aber sie ist auch die wichtigste Ressource für die Wirtschaft und das entscheide­nde Kapital der Politik. Unendlich viel Geld wird ausgegeben, um unsere Aufmerksam­keit auf sich zu ziehen, zahllose Experten von Hirnforsch­ern über Supermarkt­designern bis zu Werbetexte­rn arbeiten daran. Denn unsere Aufmerksam­keit bringt dem, der sie zu bündeln versteht, Geld und Macht. Das Ergebnis ist eine seit Jahrzehnte­n stetig wachsende und immer mehr Kanäle findende Ansprache unserer Sinne – witzig oder verführeri­sch, aufrütteln­d oder rätselhaft, versteckt oder marktschre­ierisch. Kein Zufall, vielmehr ein wunderbar sprechende­s Bild, dass die Luxusloung­e auf einem Flughafen sicher auch feines Geschirr und leckeres Essen zu bieten hat, vor allem aber elegante schlichte Räume und Stille – während die Welt draußen optisch und akustisch trubelt.

In den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln der koreanisch­en Metropole Seoul strömt sogar schon der Duft von Kaffee und Backwaren aus der Belüftung, kurz bevor eine Haltestell­e mit einer Filiale der für diesen Reiz bezahlende­n Bäckerei-Kette erreicht wird. Und im amerikanis­chen Massachuse­tts gibt es einen Schulbezir­k, der die Rückseite von Zeugnissen und Arbeitsblä­ttern als Werbefläch­en anbietet. Armes Ich im Zeitalter der Totalverma­rktung! Gegen solche Ablenkunge­n und Zerstreuun­gsangebote helfen nicht einmal mehr Ohrstöpsel und Smartphone-Blick.

Aber die fortlaufen­den Ansprachen an unsere Aufmerksam­keit sind eben noch viel mehr als bloß anstrengen­d. Das beschreibt der US-Philosoph Matthew Crawford sehr erhellend in seinem Buch „Die Wiedergewi­nnung des Wirklichen“. wie jede Ressource wird auch unsere Aufmerksam­keit besonders wertvoll gerade dadurch, dass sie nur begrenzt vorhanden ist. In jedem einzelnen Moment, aber auch insgesamt. Das heißt: Wer Auto fährt und dabei telefonier­t (und sei es über Sprechanla­ge), fährt weniger aufmerksam; wer den ganzen Tag Reizen auf Bildschirm­en folgt, hat womöglich nur wenig Möglichkei­t, sich seinen Mitmensche­n zu widmen. Und in der Konsequenz: Zum einen geht durch die ständige Zerstreuun­g im oft ja schon instinktiv­en Reagieren auf all die ausgetüfte­lten Ansprachen unserer Sinne die Fähigkeit zur Konzentrat­ion verloren – wir können kaum noch lediglich eines tun und denken, erst recht nicht über eine längere Zeit hinweg. Zum anderen lässt die sinnliche Daueranspr­ache durch Gewöhnung unsere Reaktionss­chwelle steigen. Unsere Wahrnehmun­g stumpft ab, was wiederum zu gesteigert­en Stra- tegien zur Gewinnung unserer Aufmerksam­keit führt. Wir befinden uns im Krieg um unseren Verstand, eigentlich ohne es zu merken.

Die Langzeitfo­lgen sind gleich mehrfach fatal – und zwar für unsere individuel­le Lebensgest­altung, unseren sozialen Zusammenha­lt und die Demokratie.

Das Ich

Der Mensch verliert im Trubel all der Möglichkei­ten zunächst sich selbst. Freiheit ist nur noch die Freiheit der Auswahl aus Produkten, die als Ausdruck unserer Persönlich­keit angepriese­n werden. Die Angebote gaukeln uns vor, jederzeit der sein zu können, der wir sein wollen. Die Person aber wird so zu einem immer nur vorläufige­n und stets austauschb­aren Puzzle aus einem Katalog – und damit zum Gegenteil des Individuum­s. Immer schwierige­r wird es, Zeiten der Konzentrat­ion, Stille und Nachdenken­s zu bewahren, die doch wesentlich sind für das Bilden und die Bildung einer Person, wesentlich auch für das Finden von Sinn und für die Fähigkeit zur Liebe. Denn (auch unbewusst) gedrillt vom stetigen Zirkus der angebotene­n Sensatione­n erscheint solche Zeit sehr schnell als anstrengen­d, fruchtlos und leer.

Das Wir

Dem Menschen kommt die Welt abhanden. Das gilt für ein immer flüchtiger­es Verhältnis zu den Dingen, die bald bloß noch Konsumgüte­r mit Verfallsda­tum sind. Das breite Sterben des unrentabel gewordenen klassische­n Handwerks ist dafür ein Indiz. Das gilt aber auch für die Natur, deren Erlebnis höchstens noch als Freizeitpa­rk mit Event-Charakter attraktiv ist – die Ausbeutung der Ressourcen und die Verscherbe­lung des Tiers zur Ressource der Fleischind­ustrie Zeichen für das Absterben eines LebensDenn zweiges. Und das gilt für das menschlich­e Miteinande­r, wo Beziehunge­n verflachen, der andere nur noch Teil der Umwelt ist. Begegnung wird immer unwahrsche­inlicher, Kennenlern­en erscheint als anstrengen­d und womöglich unrentabel – zu den Indikatore­n gehört die Kommunikat­ion in den Sozialen Netzwerken, die Stars mit ihren Klickzahle­n, Internet-Suchmaschi­nen, die inzwischen die wertvollst­en Konzerne der Welt sind. So droht uns die unmittelba­re Wirklichke­it abhandenzu­kommen, weil Jahrmarkts­geschrei auf allen Kanälen auf uns einlärmt.

Der Staat

Gefährlich kann das Zeitalter der Zerstreuun­g im umfassende­ren Sinne werden, weil die in ihm herrschend­en Prinzipien ein Problem für die Demokratie werden könnten. Das beginnt schon damit, dass auch die Medien in der Verbreitun­g der Informatio­nen und damit dem Verkauf ihrer Produkte im Wettkampf mit dem sonstigen Buhlen um unsere Aufmerksam­keit stehen. Inhalte? Sind komplizier­t. Und nur selten sensatione­ll genug für den Marktschre­i. Erfordern Konzentrat­ion. Naheliegen­der Ausweg: Das Gefühl der Menschen muss angesproch­en werden, die Mittel werden drastische­r, die Wertungen kerniger, Sensationa­lisierunge­n Normalität. So kann für das Verkaufen der Nachricht ihr Abstand zur Wirklichke­it auch hier wachsen. Der Demokrat wird nicht auf dem Boulevard gebildet – dort gewinnt die Parole. Wenn der Wähler also immer weniger die Konzentrat­ion und das Nachdenken auf sich nimmt, wird auch hier die Verpackung entscheide­n und nicht die Qualität des Inhalts. So was verkauft sich schlecht, wie auch unbequeme Schritte und komplexe Programme. So kann das Zeitalter der Zerstreuun­g die Hochzeit der einfachen Lösungen, der großen Verspreche­n und der Personenpo­litik werden. Wenn beides zusammenko­mmt, stehen die Chancen, dass es im Sinne der Demokratie geschieht, nicht sehr gut.

Das alles legt nahe: Es ist sehr wichtig, dass wir unsere begrenzte Menge an Aufmerksam­keit als so wichtig und wertvoll zu nehmen lernen, wie sie tatsächlic­h ist: von der Gestaltung des einzelnen Lebens bis zum Gelingen des Staates.

Matthew B. Crawford: Die Wiedergewi­nnung des Wirklichen. Übers. Stephan Gebauer, Ullstein, 432 S., 24 ¤

 ?? Foto: picture-alliance ?? Unser aller Aufmerksam­keit ist ein begehrtes Gut. Heftig wird darum gebuhlt, und es ist vor allem unser Blick, der gerne eingefange­n wird – so wie hier am Times Square in New York.
Foto: picture-alliance Unser aller Aufmerksam­keit ist ein begehrtes Gut. Heftig wird darum gebuhlt, und es ist vor allem unser Blick, der gerne eingefange­n wird – so wie hier am Times Square in New York.

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