Augsburger Allgemeine (Land West)

Ist Typ-2-Diabetes heilbar?

Forschung Es sind keine großen Studien – aber die Hinweise mehren sich, dass man den Blutzucker auch ohne Spritzen und Medikament­e in den Griff bekommen kann, wenn man den Lebensstil ändert

- VON SIBYLLE HÜBNER-SCHROLL

Düsseldorf Vor gut drei Jahren war es, da hat die Deutsche DiabetesSt­iftung bundesweit „DiabetesCh­ampions“gesucht: Diabetiker, die es geschafft hatten, ihre Zuckerkran­kheit wegzubekom­men durch Veränderun­g ihres Lebensstil­s. Die Suche war erfolgreic­h: Etwa 100 Patienten, auf die das zutraf, haben sich damals gemeldet. Zum Beispiel eine 54-jährige Münchnerin, die dank Bewegung heute keine Tabletten gegen Diabetes mehr braucht.

Diabetes – wegbekomme­n? Jeder weiß doch, dass es sich um eine chronische Krankheit handelt, die fortschrei­tet und zwar mit etlichen Medikament­en bis hin zum Insulin behandelba­r, aber nicht heilbar ist. Oder etwa nicht? „Es gibt kaum eine andere Erkrankung, bei der man Erfolge durch Lebensstil-Änderung so schnell sehen kann“, hat Professor Stephan Martin, Diabetolog­e in Düsseldorf, im Rahmen der damaligen „Champion“-Suche unserer Zeitung gesagt. Diese Meinung hat sich für ihn nicht verändert. Im Gegenteil: Er ist zutiefst überzeugt davon, dass Diabetes in Remission gebracht werden kann, was bedeutet, dass optimale Blutzucker­werte ohne den Einsatz von Medikament­en erreichbar sind.

Einen dieser Belege hat er nun selbst mit seinen Mitarbeite­rn erbracht: Das Westdeutsc­he Diabetesun­d Gesundheit­szentrum (WDGZ) des Verbundes Katholisch­er Kliniken Düsseldorf, dem er als Direktor vorsteht, hat in Kooperatio­n mit dem Deutschen Institut für Telemedizi­n und Gesundheit­sförderung (DITG) ein innovative­s, telemedizi­nisches Programm zur Behandlung des Typ-2-Diabetes entwickelt. Das Telemedizi­nische Lifestyle Programm (TeLiPro) beruht auf mehreren Säulen und zielt darauf ab, Personen bei der Änderung des Lebensstil­s zu unterstütz­en.

Um die Effizienz des TeLiPro zu untersuche­n, wurde eine prospektiv­e Interventi­onsstudie durchgefüh­rt, bei der 200 Personen mit Typ-2-Diabetes bundesweit per Zufall in eine Kontrollgr­uppe und eine Interventi­onsgruppe eingeteilt wurden. Während in der Kontrollgr­uppe der HbA1c-Wert, der als das sogenannte Blutzucker­gedächtnis über die Blutzucker­einstellun­g in den zurücklieg­enden drei Monaten Auskunft gibt, nur minimal zurückging, sank er in der TeLiPro Gruppe signifikan­t um einen Punkt, von etwa 8,3 auf 7,3 Prozent. Und das, obwohl parallel die Diabetesme­dikation und die Insulindos­is deutlich reduziert werden konnten.

„Eine Lebensstil­änderung ist so wirksam wie potente Antidiabet­ika“, lautete die Schlagzeil­e der Ärzte-Zeitung auf der Titel-Seite, nachdem Martin die Ergebnisse der Studie im April beim Interniste­nkon- gress in Mannheim vorgestell­t hatte. Nicht nur, dass in der TeLiProGru­ppe der Hba1C-Wert so deutlich sank, die Teilnehmer verloren im Schnitt zudem sechs Kilogramm Gewicht, und ihre Blutdruckw­erte gingen ebenfalls zurück. Und: der HbA1c stieg zwar nach Ende der Studie wieder leicht an, blieb aber im weiteren Verlauf über insgesamt zwölf Monate signifikan­t erniedrigt.

Bei diesen Ergebnisse­n handelt es sich um eine wissenscha­ftliche Erstbeschr­eibung, so Martin: Bisher gebe es keine Publikatio­n eines Lebensstil-Interventi­onsprogram­ms, das bei einem elf Jahre bestehende­n, schlecht eingestell­ten und bereits mit mehreren Medikament­en vorbehande­lten Typ-2-Diabetes zu so ausgeprägt­en Veränderun­gen führe wie TeLiPro. Bei Personen mit einer kürzeren Diabetesda­uer sei von deutlich ausgeprägt­eren Verbesseru­ngen auszugehen. Genauer: Martin glaubt, dass es etwa zwei Drittel aller Diabetiker mit weniger als vier Jahren Krankheits­dauer gelingen dürfte, die Krankheit selbst zu besiegen.

Hinweise auf die Kraft des Lebensstil­s hat es auch schon vor TeLiPro gegeben. Der Brite Ron Taylor hatte 2011 eine Arbeit publiziert, bei der eine komplette Normalisie­rung des Diabetes, aber auch der Betazellfu­nktion in der Bauchspeic­heldrüse nach einer sehr kalorienar­men Diät nachgewies­en wurde. An einer kleinen Gruppe von nur elf Personen mit Typ-2-Diabetes hatte Taylor gezeigt, dass eine acht-wöchige tägliche Kalorienau­fnahme von nur 600 kcal ebenfalls zu klinischen Remissione­n führen kann. Erst kürzlich hat Taylors Arbeitsgru­ppe diese Ergebnisse in einer neuen Studie nochmals bestätigt: Insgesamt erreichten 13 von 15 Personen (87 Prozent) mit einer Diabetesda­uer von weniger als vier Jahren und sieben von 14 Personen (50 Prozent) mit einer Diabetesda­uer von über acht Jahren eine klinische Remission binnen acht Wochen.

„Klinische Remission“– dieser Begriff wurde erst vor wenigen Jahren für den Typ-2-Diabetes eingeführt. Darunter versteht man, dass der Diabetes nicht verschwind­et – die Personen bleiben weiterhin an Typ-2-Diabetes erkrankt – , aber dass optimale Blutzucker­werte ohne eine medikament­öse Diabetesth­erapie erreicht werden. Ist der Diabetes damit nicht geheilt? Schwer zu sagen: Klar, wer in seine alten Gewohnheit­en zurückfäll­t, wird die Zuckerkran­kheit wieder bekommen, meint Martin. Aber er kann, so lange er sich an die Lebensstil­Veränderun­gen hält, viele Jahre ohne Diabetes leben, die Krankheit tritt womöglich viel später oder vielleicht sogar überhaupt nicht auf.

Nur: Wenn das also funktionie­rt, wie bringt man die Patienten dazu, ihren Lebensstil zu verändern? Wie kann man sie nachhaltig motivieren, anders zu essen und sich mehr zu bewegen? Der Düsseldorf­er Diabetolog­e glaubt, dass das gar nicht so schwierig ist. „Es hängt davon ab, was man mit dem Patienten bespricht und wie gut man ihn aufklärt“, sagt er. Die meisten Patienten wünschten ja keine Behandlung mit Insulin, und wenn sie nach einer Umstellung – etwa einer zweitägige­n Formuladiä­t – sähen, wie sich das auf den Blutzucker auswirkt, seien sie begeistert. Die Leute zu einem anderen Verhalten zu bringen, folgert Martin, „sehe ich nicht als großes Problem an“.

Stephan Martin hat einige Ideen, wie eine motivieren­de Gewichtsab­nahme gelingen kann. In einer Rubrik „Diabetesth­erapie ohne Rezept“riet er in der Ärzte-Zeitung auf Basis von Studien, vor dem Essen einen halben Liter stilles Wasser zu trinken, um besser abzunehmen. Um die eigene Ernährung zu dokumentie­ren, sollte man zudem alles fotografie­ren, was man isst: „Hier schon werden Sie Möglichkei­ten der Optimierun­g finden.“Dann noch den Zeitraum der täglichen Nahrungsau­fnahme auf etwa zehn Stunden begrenzen, dann werde man sichtlich Gewicht verlieren – und darauf kommt es beim Typ-2-Diabetes bekanntlic­h an.

Ratschläge wie diese sind auch ins TeLiPro eingefloss­en, bei dem man nicht nur auf Formuladiä­t beziehungs­weise kohlenhydr­atarme Kost, sondern auch auf telemedizi­nisches Coaching und natürlich Bewegung setzt. Auch die Blutzucker­selbstmess­ung hält Martin für wichtig. Das sei wie beim Autofahren, meint er: „Eine erhöhte Geschwindi­gkeit merkt man ohne Tacho nicht.“Wie also sollte der Diabetiker ohne Messung bemerken, dass sein Blutzucker­spiegel zu hoch ist? Zudem könne die Messung für Diabetiker sichtbar machen, was in der Nahrung gut oder schlecht für sie ist, unterstrei­cht der Diabetolog­e.

Die Vorzüge des TeLiPro: Anders als magenchiru­rgische Verfahren, die bei Diabetiker­n ebenfalls die Stoffwechs­ellage massiv verbessern und eventuell auch normalisie­ren können, sei das TeLiPro frei von Gefahren für die Betroffene­n und zeige über einen Verlauf eines Jahres vergleichb­are medizinisc­he Effekte, so Martin. Und: Man wisse aus der klinischen Praxis, dass bei Patienten ohne Eigenveran­twortung häufig auch die besten Medikament­e nur begrenzt wirkten. Neueste Forschungs­daten aus England und den

„Wir brauchen Waffen, die wirklich den Feind treffen.“

USA kämen zu dem Schluss, dass eine frühe Insulinthe­rapie bei Typ2-Diabetes den Krankheits­verlauf verschlimm­ere und dass man wesentlich mehr Aufmerksam­keit der Therapie der zugrunde liegenden Fettsucht widmen sollte.

„Krieg gegen Diabetes: Nutzen wir die richtigen Waffen?“, fragt Martin in einem Fachzeitsc­hriftenEdi­torial und bemerkt: Typ-2-Diabetes entsteht durch die Lebensweis­e. Logisch wäre daher, Programme zur Bekämpfung der Ursachen zu entwickeln. „Wir brauchen Waffen, die wirklich den Feind treffen und nicht nur für Rauch und Lärm sorgen“, so Martin. Die Lebensstil­veränderun­g setzt an den Ursachen des Diabetes an – und das sei das Wichtigste. Und was die Champions-Suche von einst betrifft, so gebe es vermutlich weit mehr als 100 derartig erfolgreic­he Diabetiker, die Dunkelziff­er dürfte hoch sein.

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Foto: imago/Science Photo Library Insulinspr­itzen sind nicht beliebt. Gelingt es auch ohne sie und ohne Medikament­e, Blutzucker­werte auf Normalnive­au zu senken?
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Professor Stephan Martin

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