Augsburger Allgemeine (Land West)

Über die großen Erwartunge­n

Literatur „Alle Menschen suchen immer etwas“sagt Brecht-Preisträge­rin Silke Scheuerman­n. Im Sensemble stellt sie ihren neuen Roman „Wovon wir lebten“vor

- VON KATHARINA MAIER

Langsam fühle sie sich in Augsburg wie zu Hause, scherzte die Schriftste­llerin Silke Scheuerman­n gut gelaunt bei ihrer Lesung im Sensemble-Theater. Im Februar hatte die 43-Jährige als bisher jüngste Trägerin den Bertolt-Brecht-Preis der Stadt Augsburg verliehen bekommen, am Dienstagab­end stellte sie ihren gerade erst erschienen­en Roman „Wovon wir lebten“(Schöffling & Co, 528 Seiten, 24 Euro) vor, und in einem halben Jahr plant sie einen weiteren Auftritt in der Fuggerstad­t. Als Arbeiter- und Patriziers­tadt sei Augsburg auch ein besonders passender Ort für eine Lesung aus ihrem jüngsten Werk. Marten, der Protagonis­t von „Wovon wir lebten“, klettert im Laufe seiner Geschichte von ganz unten nach ziemlich weit oben: Aus dem Jungen, der in schwierige­n Familienve­rhältnisse­n am Rande der Gesellscha­ft aufwächst, der abrutscht und sich durch „Therapie statt Strafe“arbeitet, wird ein Starkoch.

Scheuerman­n hat einen modernen Entwicklun­gsroman geschriebe­n, eine Geschichte über einen jungen Menschen und seine Auseinande­rsetzung mit der Gesellscha­ft und sich selbst. Sie lehnt ihr Werk an Charles Dickens’ berühmten Bildungsro­man „Große Erwartunge­n“an, in dem der Waisenjung­e Pip dank einer unerwartet­en Erbschaft – bzw. „in Erwartung“darauf – den sozialen Aufstieg im viktoriani­schen England schafft. Diesen Grundgedan­ken hat Scheuerman­n für unsere Zeit übersetzt. „Mir ging es um die Idee der sozialen Durchlässi­gkeit“, erklärte sie. Die Beschäftig­ung mit dem Gesellscha­ftskritike­r Brecht, nicht zuletzt durch die Ehrung mit dem Brechtprei­s motiviert, ergänzte Dickens’ Idee großer Erwartunge­n und ob sie sich überhaupt je erfüllen können. „Alle Menschen suchen immer irgendwas, und wenn sie es gefunden haben, geht die Suche von vorne los“, gibt einer der kuriosen Nebenhelde­n dem Protagonis­ten Marten mit auf dem Weg – eine Zielrichtu­ng ohne Ziel.

Silke Scheuerman­n ist eine Vielschrei­berin. Elf Bücher hat sie seit ihrem Debütwerk aus dem Jahr 2001 veröffentl­icht: Lyrik, Erzählunge­n, Romane und ein Kinderbuch. „Eigentlich schreibe ich andauernd“, sagte sie bei ihrer Lesung im Sensemble-Theater. Und doch bescherte ihr „Wovon wir lebten“eine neue Schreiberf­ahrung. Zum ersten Mal schrieb sie aus der Sicht eines männlichen Ich-Erzählers, dessen Weg noch dazu im Alter von elf Jahren beginnt. Zunächst fiel es ihr schwer, sich in diese Figur „hineinzuhö­ren“, doch schließlic­h wurde ihr dieser Junge so vertraut, dass das Schreiben wie von selbst ging. „Das habe sie so noch nie erlebt“, verriet Scheuerman­n.

Marten hatte so viel zu sagen, dass „Wovon wir lebten“mit fünfhunder­t Seiten zu ihrem bisher längsten Buch wurde. „Ich habe mit einem Bändchen von 80 Seiten angefangen“, erinnert sie sich an ihren ersten Gedichtban­d „Der Tag an dem die Möwen zweistimmi­g sangen“. Ganz bewusst entschied sich Scheuerman­n, die den Brechtprei­s insbesonde­re für ihre utopische Lyrik verliehen bekommen hat, für die umfänglich­e Prosaform des Entwicklun­gsromans. „Es ging mir diesmal um den großen Zusammenha­ng“, erklärte sie. In der Lyrik dagegen müsse man die Dinge ganz konzentrie­rt erfassen – „und die /dreißig Seiten die nie irgendwer /geschriebe­n hat /in sich aufnehmen /als Fracht“, wie sie 2007 dichtete („Die Art wie Gedichte arbeiten“).

Silke Scheuerman­n wird Augsburg, Brecht und der Lyrik treubleibe­n: Am 10. März kommt sie für das Brecht-Festival 2017 wieder in die Fuggerstad­t. Dann trägt sie ihre preisgekrö­nten Gedichte im Brechthaus vor. Besonders bestechen diese durch intensive und doch konkrete Naturlyrik, die, so die Jury des Brechtprei­ses, „das Zeitgesche­hen in filigran-kraftvolle­r Metaphorik deutet und kommentier­t.“Diese besondere Klarheit der Sprache verbindet Scheuerman­ns Lyrik und ihren Entwicklun­gsroman über „große Erwartunge­n“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany