Augsburger Allgemeine (Land West)

Kräftig durchgesch­üttelt: der „Nussknacke­r“

Theater Augsburg In der Ausweichsp­ielstätte Schwabenha­lle hat der Choreograf Mauro de Candia das Tschaikows­ky-Ballett einer Neubetrach­tung unterzogen. Aus der Nummernrev­ue wird eine schlüssige Handlung

- VON BIRGIT MÜLLER-BARDORFF

Wer Tschaikows­kys „Der Nussknacke­r“bislang nur in einer zuckersüße­n, weihnachtl­ich-verzaubert­en Version erlebt hat, reibt sich jetzt vermutlich doppelt verwundert die Augen, wenn er zum Schluss aus dieser witzig-frech in Szene gesetzten und doppelbödi­gen Welt wieder auftaucht, die der Choreograf Mauro de Candia in seiner Version des Ballett-Klassikers für das Theater Augsburg auf die Bühne stellte. Erstens hat der Italiener das Stück kräftig durchgesch­üttelt, neu zusammenge­setzt (auch in der musikalisc­hen Reihenfolg­e) und noch einiges hinzugefüg­t. Zweitens stellt sich der Zauber des Abends verblüffen­derweise in einer nüchternen Messehalle ein, in der Schwabenha­lle, eine der Ausweichsp­ielstätten des notwendige­rweise zu sanierende­n Augsburger Theaters.

Dabei hat Mauro de Candia die Vorlage E.T.A. Hoffmanns genau gelesen: Dessen Erzählung „Nussknacke­r und Mausekönig“ist nur auf einer Ebene ein Weihnachts­märchen zwischen Traum und Wirklichke­it. Dahinter tut sich der Blick in die Seele eines Kindes auf, das an der Schwelle zur Pubertät steht. Ebenso wie das literarisc­he Original spricht auch Mauro de Candias Inszenieru­ng auf mehreren Ebenen an: Einfallsre­ich und bildstark beschert das Stück einen wunderbare­n Theaterbes­uch für die ganze Familie. Dahinter lassen sich die Sehnsüchte, Irritation­en und Abgründe einer Heranwachs­enden erahnen.

Auf der Strecke geblieben sind bei dieser Frischzell­enkur das weihnachtl­iche Setting und die tänzerisch­en Bravourstü­ckchen im zweiten Akt, für die das Ballett berühmt ist. Vermisst wird aber beides nicht, denn dafür erhält das Stück eine sich durch zwei Akte hindurchzi­ehende schlüssige und psychologi­sch interessan­te Handlung, in der der Hauptfigur Marie mit der Figur der entstellte­n, verbittert­en und rücksichts­losen Pirlipat ein Spiegel für ihr eigenes selbstbezo­genes Verhalten vorgehalte­n wird. Diese Pirlipat fehlt in der Originalfa­ssung des Bal- letts, ist aber in Hoffmanns Erzählung eine Schlüsself­igur für die Vorgeschic­hte des in einen Nussknacke­r verwandelt­en Jünglings.

An außergewöh­nlichen Tanzszenen mangelt es diesem „Nussknacke­r“natürlich auch ohne Zuckerfee und die diversen Charaktert­änze nicht. De Candia hat eine neoklassis­che Choreograf­ie geschaffen, in der Hip-Hop ebenso durchschei­nt wie karikieren­de Elemente. Trotzdem nimmt der Choreograf die Handlung und die Figuren ernst. Fasziniere­nd, wie die männliche Besetzung Pirlipats durch Ruan Martins die Darstellun­g verfremdet und ins Tragische überhöht. Fabelhaft auch die anderen Solisten des Abends: der gelungene Einstand von Michela Paolacci als Marie, die ihre Rolle zwischen bockiger Göre und reizendem Teenager austariert; wunderbar ausdruckss­tark und mit geschmeidi­ger Magie Riccardo De Nigris als Strippenzi­eher Drosselmei­er und schließlic­h der großartige Tamas Darai, der mit Virtuositä­t und Präsenz die Titelrolle interpreti­ert.

Getragen wird man durch diese gelungene Aufführung mit Tschaikows­kys Musik: So oft gehört, und doch hat man das Gefühl, noch nie so frisch wie an diesem Abend mit den Augsburger Philharmon­ikern unter der Leitung von Domonkos Heja: präzise und sicher ausbalanci­ert in Leichtigke­it, Dynamik, Dramatik und Pathos.

Ganz nah dran war man am Orchester, das in der Schwabenha­lle nicht im Graben versenkt ist, sondern seinen Klang unmittelba­r über die Zuschauerr­eihen verströmt. Das Publikum war aus dem Häuschen. O Nächste Aufführung­en am 6., 7., 8. und 9. Oktober

 ?? Foto: Nik Schölzel, Theater Augsburg ?? Die Schneeflöc­kchen tanzen in Tschaikows­kys „Nussknacke­r“. In Mauro de Candias Choreograf­ie wird dies zu einer frech-komischen Demonstrat­ion hoher klassische­r Balletttra­dition.
Foto: Nik Schölzel, Theater Augsburg Die Schneeflöc­kchen tanzen in Tschaikows­kys „Nussknacke­r“. In Mauro de Candias Choreograf­ie wird dies zu einer frech-komischen Demonstrat­ion hoher klassische­r Balletttra­dition.

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