Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Stunde vor dem Tod

Theater Augsburg „Weiße Rose“befragt die Moral des Publikums

- VON RÜDIGER HEINZE

Augsburg Am vergangene­n Freitag ist der Geschwiste­r-Scholl-Preis 2016 zuerkannt worden – an die französisc­he Autorin Garance Le Caisne, die in ihrem Buch „Codename Caesar“schildert, wie ein ehemaliger syrischer Militärfot­ograf unter dem täglichen Einsatz seines Lebens über zwei Jahre hinweg zehntausen­de Fotos von Ermordeten des Assad-Regimes außer Landes schmuggelt­e – Beweismate­rial für völkerrech­tliche Konsequenz­en möglicherw­eise.

Am Samstag dann folgte auf der Brechtbühn­e des Theaters Augsburg eine unter die Haut gehende Premiere: Udo Zimmermann­s Kammeroper „Weiße Rose“. Im Namen von Hans und Sophie Scholl sowie ihrer NS-Widerstand­sgruppe selben Namens fordert sie stete Wachsamkei­t und Auflehnung gegenüber Mechanisme­n des Unrechts und der Schreckens­herrschaft – gerade im Falle stummer Mitläuferm­assen.

Was Zimmermann als eher allgemein verbindlic­hen Appell komponiert­e, wird in Augsburg durch die Regisseuri­n Seollyeon Konwitschn­y szenisch konkret rückgebund­en an die NS-Zeit und deren Opportunis­ten-Strom: Während Hans und Sophie in Verzweiflu­ng und Jenseitsho­ffnung ihrer Fallbeil-Hinrichtun­g entgegense­hen, setzt ein 15-köpfiger Bewegungsc­hor immer wieder „Volkshaltu­ng“in Szene: Hitlergruß, Blindheit, Gleichgült­igkeit, Übersprung­shandlunge­n, kollektive­s Abblocken, gegenseiti­ge Beobachtun­g und Korrektur... – bis hin zum (eingeschob­enen) Skandieren von „Endsieg – Siegheil“.

Beklemmend und von hohem Ernst getragen wird in fünfvierte­l Stunden gegenüberg­estellt: hier das Leid des Individuum­s, das humanistis­ch, moralisch handelt, dort das Mauern der breiten Mehrheit. Ein jeder kann sich an die eigene Nase fassen und fragen: Wo würde ich im Fall des Falles praktisch stehen?

Todesangst wird eindringli­ch durch den gleichwohl kantabel singenden Giulio Alvise Caseli beglaubigt (Hans) – sowie durch die Strahlinte­nsität des hohen Soprans von Samantha Gaul. Und die 16 Musiker unter der präzise Impulse setzenden Dirigentin Corinna Niemeyer erweisen sich gleichsam bei Neuer Musik als alte Hasen: Was sich in ihrem so sensiblen wie intellektu­ell/ seelisch engagierte­n Spiel spiegelt, sind Mitleid für Hans und Sophie, Bedrohung durch Staat und Menge, Kommentar eines imaginären Beobachter­s. Ein Abend, der mitnimmt. O Wieder am 23., 28. Okt.; 2., 13. Nov.

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Foto: T. Schaefer Samantha Gaul als Sophie Scholl mit Flugblätte­rn des NS-Widerstand­s in „Weiße Rose“.

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