Augsburger Allgemeine (Land West)

Anna gibt nie auf

Porträt 90 Prozent aller Embryos, bei denen das Down-Syndrom festgestel­lt wird, kommen nicht zur Welt. Anna durfte leben. Heute ist sie 20. Und noch immer kämpfen ihre Eltern gegen Vorurteile. Und dagegen, dass Kinder wie ihres bald ganz verschwind­en

- VON JOSEF KARG

Bobingen

Anna spricht leise, und man muss sich ein wenig nach vorne neigen, um sie genau zu verstehen. Ihren größten Wunsch flüstert sie fast: „Ich möchte gerne wie ein ganz normaler Mensch leben!“

Anna wurde mit dem Gendefekt Trisomie 21 geboren. Aber die Zunge ist ihr nicht im Weg, wenn sie redet, wie das bei anderen Menschen mit Down-Syndrom oft der Fall ist. Die 20-Jährige kann sich gut ausdrücken, hat sogar den Hauptschul­abschluss geschafft. Mittlerwei­le arbeitet sie als Raumpflege­rin, ist ganz normal kranken- und rentenvers­ichert. Eigentlich stünde ihrem Wunsch nichts im Wege. Eigentlich.

Anna ist eine aparte junge Frau – dunkelblon­de Haare, leichte Föhnwelle. Sie lächelt. Um ihren Hals baumelt eine Kette mit einem Goldherzch­en. Wer nicht genau hinsieht, bemerkt die typischen Merkmale des Down-Syndroms wie die leicht schräg stehenden Augen gar nicht. Was vor allem auffällt, ist ihre Größe: Sie ist 1,40 Meter klein.

Dass Menschen wie Anna in Normalität leben können, ist nicht so einfach, wie man sich das vorstellt. Politisch sind die Weichen zwar gestellt. Die Bundesrepu­blik hat sich 2007 mit der Unterzeich­nung der Behinderte­nrechtskon­vention verpflicht­et, Menschen mit Behinderun­g eine „wirkliche Teilhabe an einer freien Gesellscha­ft“zu ermögliche­n. Aber die Realität sieht anders aus. In den Köpfen und Herzen vieler scheint diese Botschaft jedenfalls noch nicht angekommen zu sein.

Das könnte auch daran liegen, dass Menschen wie Anna immer weniger werden. Die meisten Eltern wollen heute wissen, ob ihr Kind Down-Syndrom hat. In der Schwangers­chaft können sie das inzwischen völlig gefahrlos per Bluttest untersuche­n lassen. Steht die Diagnose „Trisomie 21“im Raum, entscheide­n sich inzwischen neun von zehn Müttern und Vätern für eine Abtreibung. Vielleicht also werden Menschen wie Anna bald ganz verschwind­en.

Anna wurde geboren, als es noch keine einfachen Bluttests gab, die nachweisen können, dass sie das Chromosom 21 drei- statt zweimal besitzt. Ihre Eltern hatten sich wegen der damaligen Risiken einer Fruchtwass­eruntersuc­hung gegen einen Test entschiede­n. Und doch wollten sie so etwas wie Gewissheit haben. Weil Annas Mutter damals schon älter als 35 Jahre war und sie Probleme in der Schwangers­chaft hatte, suchten sie einen Spezialist­en in München auf, um per Ultraschal­l eine Prognose zu bekommen. „Unauffälli­g“, lautete der Befund.

Wie schwierig die erste Zeit nach der Geburt war, haben die Eltern bis heute nicht vergessen. Selbst jetzt, nach über 20 Jahren, können sie sich sehr genau daran erinnern, wie sie schließlic­h ein Platz an der Förderschu­le in Königsbrun­n.

„Ich bin gerne in die Schule gegangen“, erinnert sich Anna. Die Eltern haben sie gefördert, wo es möglich war. So schaffte das Kind sogar die neunte Klasse mit einem Hauptschul­abschluss – und „einem Einser in Geschichte“, fügt die junge Frau mit einem Lächeln hinzu. Neben Geschichte seien Englisch und Sport ihre Lieblingsf­ächer gewesen. Nur mit Mathe habe sie sich schwergeta­n.

Doch da sind nicht nur positive Erinnerung­en: Es hat auch Zeiten gegeben, da hätten ihre Mitschüler sie gehänselt und tief verletzt, sagt der Vater. Doch zum Glück sei Anna ein positiver Mensch, der anderen nichts nachträgt.

Zusammen mit ihren zwei nicht behinderte­n Geschwiste­rn lebt die junge Frau daheim bei den Eltern in Bobingen (Landkreis Augsburg). Dort hat sie auch in ihrer Freizeit volles Programm: Sie liebt Fotografie und tanzt für ihr Leben gern – mit ihrer Mama Jazz Dance und allein Ballett. Im Januar hat sie einen Auftritt. Dafür übt sie zielstrebi­g, trainiert jeden Tag. Man fühlt sich erinnert an die ZDF-Weihnachts­serie von 1987, als die durch einen Unfall querschnit­tgelähmte Anna Pelzer sich zurück ins Leben kämpft.

Aber die Realität ist keine Fernhätten sehschnulz­e, und Anna ist sich im Klaren darüber, dass sie wohl nie Profitänze­rin wird. Ihr geht es beim Ballett um den Spaß und die Leichtigke­it, die sie sich mit Ehrgeiz erarbeitet. „Anna braucht manchmal länger, sie muss mehr üben als andere, aber sie kann das alles erlernen“, berichtet die Mutter.

Anna und ihre Eltern sitzen in dem weitläufig­en Wohnzimmer mit Blick auf den Swimmingpo­ol im großen Garten. Es ist gemütlich, auf dem Tisch stehen schon Plätzchen. Die Eltern werben für einen offenen Umgang mit ihrem Kind. Arbeitgebe­r, Schulen, Sportverei­ne sollten sich öffnen, die Vorurteile gegen mongoloide Kinder, wie man sie wegen ihrer schräg gestellten Augen früher diskrimini­erend nannte, über Bord werfen. „Down-Syndrom ist schließlic­h nicht ansteckend“, betont der Vater.

Seine Frau räumt aber auch ein: „Es gibt sicher ganz viele Kinder mit Down-Syndrom, deren Leben nicht so positiv verläuft wie das von Anna.“In der Tat: Menschen mit Trisomie 21 unterschei­den sich sehr. Es gibt verschloss­ene, bockige Typen, an die man nach der Pubertät nicht mehr rankommt. Es gibt Menschen, die auch mit zunehmende­m Alter nicht lernen, ihre Emotionen zu zügeln. Manche tragen mit 20 Jahren noch Windeln.

Bei Anna lief es zum Glück anAnna ders: Das liegt einerseits daran, dass sie ohne größere Krankheite­n durch die Kindheit kam. Und natürlich hat sie von ihrem Umfeld profitiert: Ihr Vater ist ein erfolgreic­her Anwalt, die Mutter konnte ihren Beruf aufgeben und sich ganz in den Dienst ihrer Kinder stellen. „Ich habe das gerne gemacht und würde es jederzeit wieder tun“, sagt sie. Und dass es längst nicht mehr vom Einkommen abhängt, wie gut Kinder mit Down-Syndrom gefördert werden.

Trotzdem liegt sie in der Luft – die große Gewissensf­rage: Hätte sie abgetriebe­n, wenn sie gewusst hätte, dass ihr Kind diesen genetische­n Defekt hat? Annas Mutter wirkt nachdenkli­ch, schluckt, nimmt sich „Seit in Dänemark flächendec­kend pränatale Untersuchu­ngen eingeführt wurden, hat sich die Zahl der Neugeboren­en mit Down-Syndrom binnen eines Jahres halbiert“, berichtet Die Zeit. So wie es aussieht, könnte die Zahl dort bald auf null sinken – also jedes Ungeborene mit der Diagnose Down-Syndrom abgetriebe­n werden. Gut möglich, dass das auch in Deutschlan­d passiert, wenn der Bluttest als Kassenleis­tung kommt, wie es derzeit diskutiert wird.

Dies wäre im Sinn des umstritten­en britischen Evolutions­biologen Richard Dawkins, der vor zwei Jahren über das soziale Netzwerk Twitter zur Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom geraten hat. Das klingt, als gäbe es in unserer Gesellscha­ft keinen Platz mehr für sie. Die erschrecke­nde Vorstellun­g einer behinderte­nfreien Gesellscha­ft wird hier mit medizinisc­hem Nachdruck verfolgt.

Der Augsburger Weihbischo­f Anton Losinger, ehemaliges Mitglied des Deutschen Ethikrates, hält das für falsch: Es gehe um das Leben des ungeborene­n Kindes und darum, wo der Optimierun­gswahn des Menschen ende. „Wollen wir wirklich den Designerme­nschen?“, fragt er sich. „Und wie passt das zur Inklusion?“Also der Idee einer Gesellscha­ft, in der jeder Mensch akzeptiert wird – unabhängig von Behinderun­gen.

Mit solchen Gedanken quält sich Anna nicht, obwohl sie wahrschein­lich mehr über ihr Leben nachdenkt, als es andere tun. Sie freut sich über jeden Tag, an dem sie Menschen begegnet, die sie nicht als Behinderte wahrnehmen, sondern als ganz normalen Menschen. Und die junge Frau hat ein großes Ziel: Sie will in absehbarer Zeit von daheim ausziehen, ihr eigenes Leben führen, eigene Freunde finden. Denn noch ist ihr Freundeskr­eis außerhalb der Familie überschaub­ar. Dass sie all das schaffen wird, davon sind ihre Eltern überzeugt: Die Mutter bestätigt: „Anna gibt nie auf!“Der 20-Jährigen huscht ein zartes Lächeln übers Gesicht. Sie nickt zustimmend. Nie aufgeben – das ist das Motto ihres Lebens.

 ?? Fotos: Marcus Merk ?? Anna lächelt. Und das tut sie oft. Die junge Frau aus Bobingen hat einen großen Wunsch: Sie möchte leben wie ein ganz normaler Mensch – trotz Down-Syndrom.
Fotos: Marcus Merk Anna lächelt. Und das tut sie oft. Die junge Frau aus Bobingen hat einen großen Wunsch: Sie möchte leben wie ein ganz normaler Mensch – trotz Down-Syndrom.

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