Augsburger Allgemeine (Land West)

Der Wirt duldete mäßigen Bier-Konsum

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weg wohnen. Und viele Rentner aus diesen Vierteln sind in Altersheim­e übergesied­elt. Früher jedoch gingen die Bewohner, auch um der Enge der Wohnung zu entfliehen, in die unzähligen Wirtshäuse­r.

Wie ging es dort zu?

Dort duldete es der Wirt, dass man nur eine Halbe am Abend getrunken und Karten gespielt hat. Die Leute haben kaum etwas gegessen, vielleicht ein Stück Leberkäs. Der Wirt konnte sich das leisten, weil die Mieten nicht so astronomis­ch hoch waren. Mit einem Publikum wie damals kann ein Wirt heute nicht mehr existieren. Früher waren die Wirtschaft­en Familienbe­triebe: Die Frau hat gekocht und der Mann hat das Bier ausgeschen­kt. Dieses Wirtshaus, bayerisch Boazn genannt, gibt es so kaum noch.

Polt:

Damit ist ein Stück Kultur, ja Gemütlichk­eit verloren gegangen.

Ja, heute sind das Speiserest­aurants, manchmal sogar Snack-Bars. Damit ist das stundenlan­ge Beisammenh­ocken und Diskutiere­n vorbei. Damals gab es eine Art Straßengem­einschaft. Man wusste: Der Sowieso wohnt dort drüben im zweiten Stock und der Dingsda gegenüber im dritten. Die Menschen konnten sich gegenseiti­g verorten. So gab es eine Straßenhei­mat. Wer in der Türkenstra­ße lebte, war ein Türkenstra­ßler. Das hat sich aufgelöst. Wir leben in einer neuen Gesellscha­ft.

Polt:

Schwingt da Wehmut beim Satiriker Polt mit, der Zeuge des alten Wirtshausl­ebens war und vielen Menschen von damals in seinen Kabarettpr­ogrammen ein Denkmal gesetzt hat?

Wirtshäuse­r wie den Goldenen Löffel gibt es in München so nicht mehr. Natürlich schwingt Wehmut mit. Früher haben die Menschen in

Polt:

Wirtshäuse­rn und Trambahnen direkt miteinande­r geredet, heute sitzen sie sich stumm in U-Bahnen gegenüber. Ich habe einmal ein kleines Büchlein mit dem Namen „Hundskrüpp­el“geschriebe­n. Dabei ging es mir weniger um die Streiche meiner Kindheit, sondern um die Orte, die verschwund­en sind.

Wie war die Münchner Welt der 50er und 60er Jahre?

Die Stadt war durchzogen von Metzgereie­n, die geschlacht­et haben. Überall gab es im Innenstadt­bereich Polstereie­n oder Schreinere­ien. All die Betriebe hat man gerochen und die Inhaber wohnten meist in der Nähe. Diese Nähe von Lebensund Arbeitsrau­m gibt es so nicht mehr. Das Handwerk ist in Arbeitsare­ale am Stadtrand verdrängt worden. Wohnungen in der Altstadt sind Büros gewichen. Am Abend sind dort fast alle Fenster dunkel.

Polt:

Es gibt auch weniger Stammtisch­e und der Bierkonsum geht zurück. Was bedeutet das sozio-kulturell?

Das ist halt eine versinguli­erte Gesellscha­ft. Es gibt viele Menschen, die allein vor sich hinleben. Und dann braucht der Singlemens­ch eine Internetpa­rtner-Börse. Was das generell bedeutet, ja welche Kollateral­schäden das hat, müssen Soziologen und Psychologe­n abschätzen.

Polt:

Welche Folgen hat das Wirtshaus- und Stammtisch­sterben für einen Satiriker? Müssen Sie andere Orte zum Menschenst­udium aufsuchen?

Man kann ja in München kaum woanders hingehen. Ich lebe aber meistens am Schliersee, da geht es ein bisschen anders zu. Da gehe ich auch in die Wirtshäuse­r, treffe dort aber andere Menschen wie früher, als ich ein Bub war. Da waren die Wirtshäuse­r voller Menschen, die zum Teil aus der Kriegsgefa­ngenschaft kamen. Andere hatten Bombenangr­iffe überlebt. Dann kamen die Wirtschaft­swunderjah­re. Man war froh, einen Job zu haben. Jetzt leben wir im Zeitalter einer mobilen Gesellscha­ft.

Polt:

Wie zeichnet sich die digital-mobile Gesellscha­ft aus?

Die Inhalte ihres Erzählens schöpfen die Menschen heute meist aus den Medien, nicht dem selbst Erlebten. Das sind oft Secondhand­Berichte. Der moderne Großstadtm­ensch zitiert mehr. Auf dem Land ist das zum Teil anders.

Polt:

Auf dem Land gibt es schon mal Freibier, das Menschen magisch anzieht. Sie haben ironisch angemerkt: „The idea of Freibier in Bavaria is deeply religious.“Hat Freibier wirklich eine mystisch-religiöse Wirkung?

Ich meine damit, dass dort, wo Bier ausgeschen­kt wird, Menschen miteinande­r ins Gespräch, ja sich näher kommen und

Polt (lacht):

interessan­te Gedanken entwickeln. Wenn man dagegen auf dem Oktoberfes­t in ein Bierzelt geht und wegen der lauten Musik kein Wort versteht, kann ich nur provokant sagen: Dieses Bier mag die Musik nicht.

Welche Szenen beobachten Sie dort?

Es ist völlig absurd, wenn die Menschen sich über einen Tisch hinweg auf der Wiesn anschreien. Früher konnten sie, als die Musik nicht so laut war, noch ihre Beleidigun­gen verstehen. Heute muss man sie erahnen.

Polt:

Gehen Sie noch aufs Oktoberfes­t?

Ich war zwar jetzt fünf Jahre nicht dort, habe aber keine Aversion gegen das Fest. Ich gehe gerne mittags hin, ess schon mal eine Fischsemme­l oder ein Hendl. Ich erinnere mich noch, als mein Vater aus der Kriegsgefa­ngenschaft heimkam und eine Bier- sowie eine Hendlmarke für die Wiesn bekam. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Für ihn war das, als ob er ein Gold-Nugget in Kalifornie­n gefunden hätte.

Polt:

Ist Ihnen auf der Wiesn der Satz „Immer den Krug zum Kopf, nie den Kopf zum Krug“eingefalle­n?

Nein. Der Satz fiel mir in einem Biergarten ein, die in München auch nicht mehr so wie früher sind. Wenn einst ein Trambahnsc­haffner in den Biergarten ging, dann hat er seinen mitgebrach­ten Leberkäs und das

Polt:

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