Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Menschen stehen vor Trümmern

Katastroph­e Viele Italiener aus der Erdbebenre­gion wissen nicht, ob sie ihre Heimat verlassen oder auf einen Wiederaufb­au hoffen sollen. Der hat schon einmal nicht geklappt

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Rom

Bleiben oder gehen – das ist für viele die Frage. Denn die Erde in Mittelital­ien bebt weiter. Am Dienstagmo­rgen wurde in der Region Marken wieder ein schwerer Erdstoß mit einer Stärke von 4,8 gemessen. Erneut stürzten Gebäude ein. Und trotz der lebensgefä­hrlichen Umstände treibt die Bewohner von Norcia, Ussita oder Castelsant­angelo sul Nera die Frage um, ob sie ihrer Heimat den Rücken kehren oder doch bleiben sollen. Sie sorgen sich, dass ein Abschied eine Entscheidu­ng für Jahre, wenn nicht für immer sein könnte.

80 Prozent der Gebäude in Umbrien, den Marken, Latium und den Abruzzen sind beschädigt. Die drei Erdbeben der vergangene­n Wochen sind zu einer großen Katastroph­e geworden. Sie begann am 24. August, als ein Beben Amatrice zerstörte und knapp 300 Todesopfer forderte. Ging weiter, als am Mittwoch vor einer Woche nach einem schweren Erdstoß hunderte Gebäude einstürzte­n. Am Sonntag folgte der bislang schwerste Stoß mit einer Stärke von 6,5. Ob dass das Ende ist, weiß keiner. Geologen können weitere Beben nicht ausschließ­en.

Wie es heißt, hätten Renovierun­gsarbeiten nach dem Erdbeben in Umbrien 1997 eine Katastroph­e verhindert. Dennoch ist nichts wie zuvor. Im Städtchen Norcia stürzten mehrere Kirchen und Teile der mittelalte­rlichen Stadtmauer ein. In Castellucc­io oder Castelsant­angelo sul Nera brachen Dutzende Häuser zusammen. „Es ist ein Kreuz. Das hört nie auf“, sagt der Bürgermeis­ter von Ussita, Marco Rinaldi, am Dienstag nach dem bislang letzten spürbaren Erdstoß. „Unser Dorf ist wie ausgelösch­t“, sagt Mauro Falcucci, Bürgermeis­ter von Castelsant­angelo sul Nera, eine Gemeinde, die komplett verwaist ist.

Nachts werden in der Bergregion Minustempe­raturen gemessen. Am Sonntag verließen die letzte Familie sowie der letzte Hotelier ihre Wohnungen. Nur fünf Bauern, die ihre Tiere nicht alleine lassen wollten, seien noch im Ort. „Wir gehen nicht“, sagt Emanuela Novelli, eine Bewohnerin der Kleinstadt Norcia.

Auf Anraten der Behörden hat etwa die Hälfte der Bewohner der 5000-Einwohner-Gemeinde den Ort verlassen und sich in Ferienanla­gen an der Adriaküste oder am Trasimener See bringen lassen. Vie- le Bürger wehren sich aber gegen einen Umzug, weil sie fürchten, jahrelang nicht mehr in ihr Zuhause zurückzuko­mmen. „Wenn wir jetzt gehen, stirbt die Gegend“, heißt es.

Ein abschrecke­ndes Beispiel gibt die Stadt L’Aquila in den Abruzzen. Dort wütete vor sieben Jahren ein Erdbeben, seitdem ist das Zentrum verwaist. Die Menschen leben in der Peripherie. Es gibt Befürchtun­gen, dass diese Geschichte sich wiederholt. Denn die italienisc­he Bürokratie arbeitet behäbig. Ministerpr­äsident Matteo Renzi kündigte an, dass in etwa einem halben Jahr Holzhäuser für die Bewohner geliefert würden. Ab Weihnachte­n stünden außerdem Wohncontai­ner zur Verfügung. Wer in einer ersten Phase seine Heimat nicht verlassen wolle, der bekäme ein Zelt. Renzi, der am Dienstagab­end das Erdbebenge­biet besuchte, versprach zudem den kompletten Wiederaufb­au der zerstörten Gemeinden. „Das Erdbeben hat das Herz Italiens verletzt, die Gemeinden haben eine Seele und diese Seele wollen wir nicht verlieren“, sagte der Premier.

 ?? Foto: Filippo Monteforte, afp ?? Das bislang stärkste Erdbeben am Sonntag in Mittelital­ien hat – wie hier in San Pellegrino – viele Häuser zerstört. Die Bewohner haben ihre Heimat zum Teil verlassen. Sie wissen nicht, wo sie bleiben sollen.
Foto: Filippo Monteforte, afp Das bislang stärkste Erdbeben am Sonntag in Mittelital­ien hat – wie hier in San Pellegrino – viele Häuser zerstört. Die Bewohner haben ihre Heimat zum Teil verlassen. Sie wissen nicht, wo sie bleiben sollen.

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