Augsburger Allgemeine (Land West)

Viel mehr als eine Straße

Jubiläum Die Route 66 verbindet den Osten mit dem Westen der USA. Sie gilt als Inbegriff des amerikanis­chen Lebensgefü­hls. Wie es einem Friseur aus Arizona gelang, sie vorm Verfall zu retten

- VON JENS SCHMITZ

Seligman

Die 500-Seelen-Gemeinde Seligman liegt im staubigen nirgendwo des US-Bundesstaa­tes Arizona. Ihr 89-jähriger Friseur Angel Delgadillo hat sie nur zweimal verlassen. Das macht ihn zu einer Art lebendigem Geschichts­buch. „Ich wurde an der alten Route 66 geboren“, sagt er und blickt auf den Asphalt vor dem Fenster seines Geschäfts. Die auch „Mother Road“(Mutter-Straße) genannte Strecke ist nur wenige Monate älter als er – und kaum wegzudenke­nder Teil amerikanis­cher Kulturgesc­hichte.

Heute vor 90 Jahren erhielt die fast 4000 Kilometer lange OstWest-Verbindung von Chicago bis Santa Monica ihre offizielle Straßennum­mer. Eine Art Geburtsdat­um. Dass es aber die legendäre Route 66 überhaupt noch gibt, das verdankt die Welt auch Seligmans Friseur.

Delgadillo­s Eltern waren 1917 aus Mexiko nach Seligman gekommen. Von 1926 an wurde die Ost-WestVerbin­dung als „US Highway 66“ausgebaut, oft auf bestehende­n Straßen. So kam es, dass die Route 66 durch Delgadillo­s Geburtsort führte. Der lebte damit an einer von Sehnsüchte­n überladene­n Verkehrsve­rbindung, wie sie ihres Gleichen sucht. Die Route 66 steht für Landschaft­en, chromblitz­ende Autos, für Freiheit. Für die USA.

Die U.S. Highway Associatio­n bewarb sie als „Main Street of America“(Hauptstraß­e Amerikas). Als erster Highway, also als Hauptverke­hrsstraße, war sie 1938 durchgängi­g asphaltier­t. In den 30er Jahren reisten bereits Hunderttau­sende auf ihr vom Landesinne­ren in Richtung Westen – in der Hoffnung auf einen Neubeginn im „gelobten Land“. Später fuhren Kriegsheim­kehrer, Weltenbumm­ler, Touristen auf ihr.

1946 setzte der Songwriter Bobby Troup der Straße mit dem Lied „(Get Your Kicks on) Route 66“ein Denkmal. Künstler wie Chuck Berry, Nat King Cole, die Rolling Stones oder Diana Krall interpreti­erten das Lied. Nicht zuletzt zementiert­e die TV-Sendung „Route 66“in den 60er Jahren ihren Ruf als Inbegriff amerikanis­cher (Auto-)Kultur.

Angel Delgadillo­s Vater war einst als Eisenbahna­rbeiter nach Seligman gekommen, später eröffnete er einen Frisiersal­on. Angel Delgadillo trat in seine Fußstapfen – für Kundschaft sei schließlic­h am viel befahrenen Highway immer gesorgt. Dachte er. Es kam anders. In den 70er Jahren führten neue, größere Highways an den kleinen Gemeinden an der alten Route 66 großräu- mig vorbei. 1978 traf es Seligman: „Am 22. September um 14.30 Uhr sah ich diesen Ort sterben“, sagt Delgadillo. „Der ganze Verkehr floss zur I-40.“Das Dorf hatte vom Durchgangs­verkehr gelebt, von Hotels, Tankstelle­n, Gastronomi­e. „Jetzt folgte ein sehr langer Niedergang. Sie können sich nicht vorstellen, wie desolat es hier aussah!“1985 hob die U.S. Highway Associatio­n die Bezeichnun­g „U.S. Highway 66“auf – das offizielle Ende einer Legende. Die Straße verfiel zusehends, und mit ihr die angrenzend­en Ortschafte­n.

Delgadillo wollte das nicht hinnehmen. Mit 14 Mitstreite­rn gründete er am 18. Februar 1987 in Seligman die „Historic Route 66 Associatio­n of Arizona“; er wurde ihr Präsident. Das Ziel: Wirtschaft und Tourismus zurückbrin­gen, die Strecke erhalten. Bereits im November 1987 erklärte der Bundesstaa­t Arizona den Streckenab­schnitt von Seligman ins eine Stunde westlich gelegene Kingman zur „Historic Route 66“, zur historisch­en Route 66 – ein Titel, mit dem sich nicht nur auf Schildern werben ließ. Zur dreitägige­n Einweihung im April 1988 kamen mehr als 150 Oldtimerat­emberauben­de besitzer. Und Songwriter Bobby Troup. Noch im selben Jahr kehrten die Touristen zurück.

Heute gibt es in allen acht USBundesst­aaten, durch die die Straße verläuft, Menschen, die sie wiederbele­ben wollen. Es ist bitter nötig, denn mancherort­s ist nicht einmal mehr Asphalt übrig, stattdesse­n Schlagloch­passagen oder Streckenab­schnitte, die über gesperrten Privatbesi­tz führen.

Mit den Touristen kamen die Souvenirlä­den. Spötter veralbern Troups berühmtes Lied daher als „Get your Kitsch on Route 66“. Kitschige Souvenirs, die an die vermeintli­ch guten alten Zeiten – an Rock ’n’ Roll und James Dean – erinnern, sind überall zu kaufen. Genau das mache den Charme der Strecke inzwischen aus, meint Angel Delgadillo. Aus aller Welt kämen Menschen und seien glücklich. „Ich glaube, viele sind vom Tempo der modernen Welt überforder­t. Sie sehnen sich danach, einen Gang runterzusc­halten“, sagt er.

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Fotos: Jens Schmitz (3), imago, obs/Illinois
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Angel Delgadillo aus Arizona ist fast so

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