Augsburger Allgemeine (Land West)
Tschüss Nussmärtel, Griaß di Santa Claus!
Mein Augsburg Warum schenken wir Bräuche und Dialekt so leichtfertig her?
Es waren vor allem die Kirche und die mit dem Kirchenjahr verbundenen Bräuche, die die Heimat wie eine Hafenmauer vor den wilden Stürmen der Weltmeere abgeschirmt haben. Heimelig, vertraut, sicher. Heute sind wir alle stolze Weltensegler. Die Mauern sind weg, wir kommen überall hin. Das ist großartig. Man kann sich aber auch ziemlich verloren vorkommen. Ohne Mauer trifft einen jeder Sturm. Wenn es gar zu wild hergeht, ist man froh um kleine Inseln, Leuchttürme und auch Buchten. Wir schenken viele davon leichtfertig her.
Bräuche zum Beispiel, aber auch Dialekte. Wer Mundart gleichsetzt mit einer pauschalen Intelligenzminderung um zehn Prozent, muss sich nicht wundern, wenn sich die Welt manchmal ziemlich gleichförmig anfühlt. Ein Dialekt ist kein Mangel, er ist schlicht ein Stück Heimat. Der Kollege, der zur Freude aller anderen von „Veschper“spricht, wenn er das Abendessen meint, schreibt ebenso formidable Texte wie alle anderen. Dialekte und Bräuche schaffen ein Stück Heimat und Sicherheit. Sie sind zu wertvoll, um ihnen Tschüss zu sagen. Im Gegenteil, es lohnt sich, ihnen nachzuspüren.
Der Martinsumzug zum Beispiel ist noch gar nicht so alt. Erst in den 60er-Jahren kam er hierzulande auf, schreibt Volkskundler Walter Pötzl. Vorher pflegte man vor allem westlich von Augsburg eher den Nussmärtel, der am Martinstag Nüsse brachte. Klingt nach Nikolaus, oder? Ja, doch auch dieser Hei- lige ist heute – er möge es verzeihen – oft ein armer Hund. Warum? Weil das süddeutsche Original vom Aussterben bedroht ist. Wer Schokofiguren kauft, bekommt zu 95 Prozent seinen norddeutschamerikanischen Kumpel Weihnachtsmann oder Santa Claus. Das gleiche? Nein! Der Nikolaus kommt am 6. Dezember, trägt einen Bischofshut und einen -stab. Alle anderen Gesellen übernehmen eher den Part des Christkinds und sorgen an Weihnachten für Bescherung. Sie tragen Mützen mit weißem Fellkragen und teils absonderliche Gewänder. Fernsehen, Filme, Internet und auch Geschäfte sind fest in der Hand des Weihnachtsmannes. Doch wer will, kann den Nikolaus retten. Und wer will, kann den Brauch trotz allem am Leben erhalten. In Augsburg gibt es sogar ein Nikolaus-Seminar und die Arbeitsagentur bietet unverdrossen einen Nikolaus-Service an. Der Heilige kommt dann nach Hause, lobt die Kinder (und kritisiert ein bisschen was) und lässt Geschenke da. Früher kam zumindest bei uns noch der Knecht Rupprecht mit. Er hat uns kräftiger die Leviten gelesen als heute üblich. Manchem kleinen Donald Trump, der nur den amerikanischen Santa Claus erlebte, hätte das wohl auch gut getan.
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