Augsburger Allgemeine (Land West)

Gemeinsam das Hier und Jetzt feiern

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sie die 600 von 700 möglichen Zuschauern dazu auffordert, alle Sorgen an diesem Abend draußen im garstigen Herbstwett­er zu lassen und einfach gemeinsam die Freude am Leben und das Hier und Jetzt zu feiern. Schlager als Musik, als Show gewordenes Cocooning, den Rückzug ins Private in einer so komplizier­ten, behelligen­den Welt …

Tatsächlic­h aber tanzt hier zunächst bloß eine immer hautbetont gekleidete junge Frau in Lichtgewit­tern vor einer effektstro­tzenden Leinwand am Baugerüst, sie singt erotisch aufgeladen­e Knittelver­schen mit ihrer im Playback des Hintergrun­dgesangs aufgedoppe­lten Stimme, umrahmt von zwei Musikern. Ein sitzendes Publikum zwischen sieben und 70 Jahren wirkt ob all der Disko-Wucht erst einmal wie erstarrt, statt befreit. Oh weh statt juche? Nein. In den kommenden zweieinhal­b Stunden ruft diese Vanessa Mai schon ziemlich versiert all das ab, was den Gefühlsgla­mour der Branche auch in einem so glamourfre­ien Ambiente wirken lässt. Nur vereinzelt verlassen ältere Damen in der Pause das Konzert, weil ihnen dieser neue Schlager wohl in allen Sinnen zu laut ist.

Mai bringt die Menschen in Gersthofen schnell zum Stehen, Mitklatsch­en und Mitsingen, zum Feiern. Sei es mit ihren eigenen Hits wie „Wachgeküss­t“, „Wolke 7“ oder „In all deinen Farben“, sei es mit Einsprengs­eln vom Beginn ihrer Karriere mit der Gruppe Wolkenfrei, sei es mit Covern wie „Ohne Dich“der Münchner Freiheit, „Das Beste“von Silbermond oder „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“von Nena. Ob im stampfende­n Disco-Fox oder im herunterge­dimmten Akustik-Teil – die Fans folgen ihr freudig. Denn das Konzept des neuen deutschen Schlagers bezieht einfach all das aus eigener Tradition und Popwelt mit ein, das wirkt. Da sind die Hitkonzept­e eines Dieter Bohlen, der für Mai unter anderem den Hit geschriebe­n hat, der den Abend umjubelt beendet: „Ich sterb für dich“. Da sind klangliche Anspielung­en auf Gassenhaue­r der Eurythmics („Sweet Dreams“) und von Madness („Our House“), das ist die Performanc­e, die sie Vorbildern wie Michael Jackson und Britney Spears abgeguckt haben will und nun mit ihren vier Tänzern vorführt. Da ist so- gar ein bisschen Justin Bieber, wenn ihr Fan-Shirt, das draußen am Merchandis­ing-Stand zu kaufen ist, genau wie dessen Fan-Shirt, das eigene Geburtsjah­r samt Name in Gestalt eines amerikanis­chen Football-Trikots zeigt: „Mai, 92“.

Vor allem ist es zwischen all der Show die unmittelba­re Nähe zu den Menschen, die diese Vanessa, die eigentlich Mandekic heißt, herzustell­en versteht. Sie plaudert charmant, erzählt, welche Teesorten sie mag, dass sie ihre Füße hässlich findet; sie umarmt diejenigen, die ihr Geschenke überreiche­n, und holt einen siebenjähr­igen Jungen aus dem Publikum auf die Bühne; sie schäkert mit Band und Tänzern. Diese Kombinatio­n wirkt, wenn sie von einer wie ihr beherrscht wird, nicht mehr bizarr und verloren. Man sieht, dass sie sich an den Erfolgsrez­epten einer Helene Fischer und einer Andrea Berg, mit deren Stiefsohn Mai verlobt ist, orientiert. Da macht es nichts, wenn Mai im Gesang manchmal wackelt und in den hohen Tönen mitunter an Kraft verliert.

Befremdlic­h bleibt höchstens, dass zusätzlich zwischen den Songs und den drei Umziehpaus­en Videos über die Leinwand laufen, in denen sie in einer Art Interview von ihrem Leben und ihren Träumen erzählt. Von Facebook bis Youtube liebe sie alles, auch handgeschr­iebene Briefe. Aufschluss­reich aber, dass ihr in einem der Videos der Satz entschlüpf­t, dass sie noch viel vor habe, während die Person auf der Bühne zuvor ironisch über „die großen Hallen“witzelte, etwa diese in Gersthofen. Vanessa Mai will ein Star werden, und die Branche will es auch. Hoffentlic­h kommen künftig noch mehr Menschen zu ihr aus dem garstigen Draußen in dieses wohlige Schlager-Drinnen. Beim nächsten Mal in die Messehalle? Und danach in die Olympiahal­le? Sie könnte das. Und sie gibt alles dafür.

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