Augsburger Allgemeine (Land West)
Erfahrung im Gebeinhaus
Der November ist für mich beruflich einer der intensivsten Monate. Viele wünschen sich ein Seminar oder einen Vortrag zum Thema Trauer und Tod, als ob die Menschen nur im November sterben würden. Bei meinen Vorbereitungen stieß ich auf ein Foto von meiner Pilgerreise durch den „Heiligen Berg Athos“. Wir pilgerten von Kloster zu Kloster und besuchten Einsiedler, die ihr Leben in völliger Abgeschiedenheit, Stille und Gebet verbringen.
Im ersten Kloster Hilandar führte uns ein serbisch-orthodoxer Mönch namens Milou ins Gebeinhaus des Klosters. Sorgfältig geordnet stehen Schädel und alle anderen menschlichen Knochen nebeneinander. Wir philosophierten über das Leben dieser Mönche, die uns aus den hohlen Augen anblickten. Im Angesicht dieser Sinnbilder des Todes fragte ich Milou: „Was ist in deiner Spiritualität das Wesentlichste?“Er schaute mir in die Augen und sagte: „Dass Gott dir das Leben geschenkt hat!“Inmitten all der Toten richtete sich sein Blick auf das Leben, als Geschenk. Ein Geschenk, das mit unzähligen bunten Papieren umhüllt ist. Seinen Wert bekommt jedes Geschenk erst, wenn es ausgepackt wird. Mein Leben will täglich ausgepackt werden mit all den Fähigkeiten und Aspekten, die in mir stecken. Was schenkt mir das Leben jetzt, hier und heute, in diesem Moment!
In diesem Entfalten der unterschiedlichen Geschenkpapiere werde ich immer neue Seiten an mir kennenlernen. Ich werde zum Schöpfer meines Lebens, indem ich Situationen bewusst annehme und entsprechend gestalte. Der Blick auf die Gebeine und damit auf die Endlichkeit des Lebens kann uns mit einer tieferen Bewusstheit beschenken. Je mehr wir uns eingestehen, dass unser Leben ein Ende hat, umso mehr werden wir etwas daraus machen. Vielleicht ist es der Monat November, der uns in besonderer Weise einlädt, unser Leben gerade wegen seiner Endlichkeit als das großartigste und vielfältigste Geschenk zu entdecken.