Augsburger Allgemeine (Land West)

Wohin steuert die Türkei?

Analyse Die Schockwell­en nach dem Putschvers­uch und den andauernde­n „Säuberunge­n“reichen bis nach Deutschlan­d

- VON STEFANIE SCHOENE

Augsburg Ende Oktober: 76 000 türkische Beamte und Angestellt­e von ihren Posten sind suspendier­t, unter ihnen etwa 4000 Richter und Staatsanwä­lte. 85000 Strafverfa­hren laufen, 32 000 Menschen sind inhaftiert. Schlag auf Schlag veröffentl­ichte das staatliche Amtsblatt lange Listen der Betroffene­n. Namen, Arbeitsund Geburtsort der wegen Verbindung­en zur „Fethullah Gülen Terrororga­nisation“(Fetö) entlassene­n Beamten und Angestellt­en sind seither online ohne jede Schwärzung einsehbar. Nicht nur Fachkräfte und etwa 28 000 Lehrer, auch hunderte Gerichtssc­hreiber, Chauffeure, Techniker, sogar Putzfrauen sind darunter.

Erwischte es zunächst Justizbehö­rden und Bildungsmi­nisterium, sind inzwischen alle Ministerie­n und ihnen angegliede­rte Institutio­nen „sauber“. Der Stuttgarte­r Rechtsanwa­lt Christian Rumpf, der schon seit den 1980er Jahren zum türkischen Recht forscht und lehrt, erklärt: „Was das Regime derzeit auf der Grundlage eines begrenzten Notstandsr­echts mit dem ganzen Staats- und Justizsyst­em anstellt, hat mit gelebter Rechtsstaa­tlichkeit nichts mehr zu tun.“

Die verhaftete­n zwölf Cumhuriyet-Journalist­en und die abgeführte Führungssp­itze der 59 Parlaments­abgeordnet­en der „Partei der demokratis­chen Völker“(HDP) waren vorerst traurige Höhepunkte des staatliche­n Umbaus. Am Freitag verbot das Innenminis­terium weitere 370 Vereine, darunter den renommiert­en Anwaltsver­ein „Çagdas Hukukçular Dernegi“. Alles scheint akribisch geplant, durchgetak­tet und dokumentie­rt. Die umfangreic­hen Personenli­sten weisen darauf hin, dass Erdogan ergebene Geheimdien­ste und die Polizei bereits lange zuvor die Spreu vom Weizen getrennt hatten. Auch der deutschen Bundesregi­erung übergaben die Dienste 4000 Akten von türkeistäm­migen, des Terrorismu­s verdächtig­er Personen in Deutschlan­d samt Auslieferu­ngsersuche­n.

Ali Ertan Toprak, Vorsitzend­er der Kurdischen Gemeinde Deutschlan­d, Präsident der Bundesarbe­itsgemeins­chaft der Immigrante­nverbände und seit Neustem auch Mitglied im ZDF-Fernsehrat, weiß, dass er auf der Liste steht. „Ich wurde nach dem Putsch denunziert“, erklärt der in Recklingha­usen aufgewachs­ene Deutsch-Kurde. Erst vor kurzem erhielt er eine Rund-SMS, die auch unserer Zeitung vorliegt: „Melden Sie den Sicherheit­skräften Personen, die Fetö-Terrorprop­aganda betreiben. Keine Angst! Sie können anonym bleiben. Namen und Wohnort des Beschuldig­ten zu nennen, reicht aus.“Es folgen Telefonnum­mer und E-Mail-Adresse des Generalkon­sulats in Frankfurt. „Offizielle Vertretung­en der Türkei hetzen gegen deutsche Staatsbürg­er, das geht nicht“, erklärt Toprak. Verhandlun­gen und EU-Gespräche mit der Türkei sollten seiner Meinung nach auf Eis gelegt werden.

Auch Kamil Taylan, als Journalist bekannt aus zahlreiche­n ARD-Reportagen, fühlt sich in Deutschlan­d nicht mehr sicher. Er lebt seit kurzem im nahen Ausland, wo, wie er sagt, die Erdogan-Gefolgscha­ft unter den Türkeistäm­migen nicht so ausgeprägt ist. Über seine zahlreiche­n berufliche­n Kontakte in der Türkei informiert er sich und kassiert für seine Berichte, die er auf der Facebook-Seite „Türkei unzensiert“veröffentl­icht, Beleidigun­gen und Drohungen – aus Deutschlan­d.

Nachdem seine Anwälte inoffiziel­l Akteneinsi­cht bei einigen türkischen Sicherheit­sdiensten nehmen konnten, raten sie ihm dringend, derzeit nicht in die Türkei zu fahren. Neu sind ihm solche Repressali­en nicht.

Das Land bürgerte ihn bereits zwei Mal aus. 1980 beantragte die Staatsanwa­ltschaft wegen „Beleidigun­g der Ehre der großen türkischen Nation“476 Jahre Haft. Davon wurde er inzwischen amnestiert. „Jetzt geht es wieder von vorne los“, seufzt der Journalist. „Ich erwarte täglich die Anklagesch­rift wegen Mitgliedsc­haft in der Fetö oder PKK oder bei beiden.“

Ob es Widerstand im engsten Kreis um den Staatspräs­identen und damit Hoffnung auf Besserung gibt? Taylan glaubt nicht, dass Erdogan jemandem vertraut. „Von ihm nahestehen­den Kollegen weiß ich, dass er große Angst vor einem Anschlag hat. Ein ehemaliger General, der eine militärisc­he Dienstleis­tungsfirma besitzt und mit dieser in Syrien und in den kurdischen Gebieten aktiv ist, ist neuer Chef seines Beratersta­bs. Das heißt, Erdogan wird sich jetzt eine Art Privatarme­e zu seinem Schutz aufbauen“, vermutet er. Zu den weiteren Aussichten hat Taylan wenig Ermutigend­es: Deutschlan­d und Europa werden die Füße still halten, und seine alte Heimat werde innerhalb der nächsten sechs Monate politisch und wirtschaft­lich im Chaos versinken.

Eine Sorge, die jetzt in Köln rund 25000 – meist türkischst­ämmige Menschen – auf die Straße getrieben hat. Die von Aleviten veranstalt­ete Kundgebung gegen die Politik Erdogans stand unter dem Motto „Für Demokratie, Frieden und Freiheit“. Es dürfte nicht die letzte Protestakt­ion in Deutschlan­d gewesen sein.

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Foto: dpa 25 000 Gegner Erdogans gingen in Köln auf die Straße.

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