Augsburger Allgemeine (Land West)
Wohin steuert die Türkei?
Analyse Die Schockwellen nach dem Putschversuch und den andauernden „Säuberungen“reichen bis nach Deutschland
Augsburg Ende Oktober: 76 000 türkische Beamte und Angestellte von ihren Posten sind suspendiert, unter ihnen etwa 4000 Richter und Staatsanwälte. 85000 Strafverfahren laufen, 32 000 Menschen sind inhaftiert. Schlag auf Schlag veröffentlichte das staatliche Amtsblatt lange Listen der Betroffenen. Namen, Arbeitsund Geburtsort der wegen Verbindungen zur „Fethullah Gülen Terrororganisation“(Fetö) entlassenen Beamten und Angestellten sind seither online ohne jede Schwärzung einsehbar. Nicht nur Fachkräfte und etwa 28 000 Lehrer, auch hunderte Gerichtsschreiber, Chauffeure, Techniker, sogar Putzfrauen sind darunter.
Erwischte es zunächst Justizbehörden und Bildungsministerium, sind inzwischen alle Ministerien und ihnen angegliederte Institutionen „sauber“. Der Stuttgarter Rechtsanwalt Christian Rumpf, der schon seit den 1980er Jahren zum türkischen Recht forscht und lehrt, erklärt: „Was das Regime derzeit auf der Grundlage eines begrenzten Notstandsrechts mit dem ganzen Staats- und Justizsystem anstellt, hat mit gelebter Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun.“
Die verhafteten zwölf Cumhuriyet-Journalisten und die abgeführte Führungsspitze der 59 Parlamentsabgeordneten der „Partei der demokratischen Völker“(HDP) waren vorerst traurige Höhepunkte des staatlichen Umbaus. Am Freitag verbot das Innenministerium weitere 370 Vereine, darunter den renommierten Anwaltsverein „Çagdas Hukukçular Dernegi“. Alles scheint akribisch geplant, durchgetaktet und dokumentiert. Die umfangreichen Personenlisten weisen darauf hin, dass Erdogan ergebene Geheimdienste und die Polizei bereits lange zuvor die Spreu vom Weizen getrennt hatten. Auch der deutschen Bundesregierung übergaben die Dienste 4000 Akten von türkeistämmigen, des Terrorismus verdächtiger Personen in Deutschland samt Auslieferungsersuchen.
Ali Ertan Toprak, Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland, Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände und seit Neustem auch Mitglied im ZDF-Fernsehrat, weiß, dass er auf der Liste steht. „Ich wurde nach dem Putsch denunziert“, erklärt der in Recklinghausen aufgewachsene Deutsch-Kurde. Erst vor kurzem erhielt er eine Rund-SMS, die auch unserer Zeitung vorliegt: „Melden Sie den Sicherheitskräften Personen, die Fetö-Terrorpropaganda betreiben. Keine Angst! Sie können anonym bleiben. Namen und Wohnort des Beschuldigten zu nennen, reicht aus.“Es folgen Telefonnummer und E-Mail-Adresse des Generalkonsulats in Frankfurt. „Offizielle Vertretungen der Türkei hetzen gegen deutsche Staatsbürger, das geht nicht“, erklärt Toprak. Verhandlungen und EU-Gespräche mit der Türkei sollten seiner Meinung nach auf Eis gelegt werden.
Auch Kamil Taylan, als Journalist bekannt aus zahlreichen ARD-Reportagen, fühlt sich in Deutschland nicht mehr sicher. Er lebt seit kurzem im nahen Ausland, wo, wie er sagt, die Erdogan-Gefolgschaft unter den Türkeistämmigen nicht so ausgeprägt ist. Über seine zahlreichen beruflichen Kontakte in der Türkei informiert er sich und kassiert für seine Berichte, die er auf der Facebook-Seite „Türkei unzensiert“veröffentlicht, Beleidigungen und Drohungen – aus Deutschland.
Nachdem seine Anwälte inoffiziell Akteneinsicht bei einigen türkischen Sicherheitsdiensten nehmen konnten, raten sie ihm dringend, derzeit nicht in die Türkei zu fahren. Neu sind ihm solche Repressalien nicht.
Das Land bürgerte ihn bereits zwei Mal aus. 1980 beantragte die Staatsanwaltschaft wegen „Beleidigung der Ehre der großen türkischen Nation“476 Jahre Haft. Davon wurde er inzwischen amnestiert. „Jetzt geht es wieder von vorne los“, seufzt der Journalist. „Ich erwarte täglich die Anklageschrift wegen Mitgliedschaft in der Fetö oder PKK oder bei beiden.“
Ob es Widerstand im engsten Kreis um den Staatspräsidenten und damit Hoffnung auf Besserung gibt? Taylan glaubt nicht, dass Erdogan jemandem vertraut. „Von ihm nahestehenden Kollegen weiß ich, dass er große Angst vor einem Anschlag hat. Ein ehemaliger General, der eine militärische Dienstleistungsfirma besitzt und mit dieser in Syrien und in den kurdischen Gebieten aktiv ist, ist neuer Chef seines Beraterstabs. Das heißt, Erdogan wird sich jetzt eine Art Privatarmee zu seinem Schutz aufbauen“, vermutet er. Zu den weiteren Aussichten hat Taylan wenig Ermutigendes: Deutschland und Europa werden die Füße still halten, und seine alte Heimat werde innerhalb der nächsten sechs Monate politisch und wirtschaftlich im Chaos versinken.
Eine Sorge, die jetzt in Köln rund 25000 – meist türkischstämmige Menschen – auf die Straße getrieben hat. Die von Aleviten veranstaltete Kundgebung gegen die Politik Erdogans stand unter dem Motto „Für Demokratie, Frieden und Freiheit“. Es dürfte nicht die letzte Protestaktion in Deutschland gewesen sein.