Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Wahl der Wahrheit
Debatte Brexit, Trump, AfD: Politik wird immer mehr zum Wettstreit, welche Version der Wirklichkeit mehr überzeugt. Nun hat Ober-Polizist Rainer Wendt einen Bestseller gelandet: „Deutschland in Gefahr“! Ein richtungsweisender Erfolg?
Keiner hat die Wahrheit gepachtet. Das gilt fürs tägliche Leben und erst recht in der Wissenschaft. Da werden umfassende Theorien aufgestellt, die dann durch Untersuchungen aber nur im Detail zu stützen sind. So gelten die Theorien eben in Konkurrenz der Welterklärungen als richtig, bis sie durch andere widerlegt oder durch bessere übertroffen sind. Kling kompliziert? Wäre es in der Politik nur so einfach!
Nicht von ungefähr wurde im Englischen jetzt „post-truth“zum Wort des Jahres gekürt, ein eigentlich bereits 2004 vom Briten Ralph Keyes mit dem Buch „The PostTruth Era“zur Zeitgeistdiagnose eingeführter Begriff – in Bezug auf Verlogenheit und Täuschung im heutigen Leben generell. Zu Deutsch heißt das „postfaktisch“und meint nun spezieller: Nicht mehr Fakten sind entscheidend für die Wahrnehmung der Wirklichkeit und damit die politischen Programme; entscheidend sind Stimmungen.
Und so lautet der derzeit angesagte Begriff, um zu erklären, was Wirkung entfaltet: das Narrativ. Die Erzählung, in der die Stimmung als Weltbild Ausdruck findet. Sie ist es, die überzeugen und im Wettstreit mit anderen bestehen muss. Tatsachen sind nebensächlich. Und so wird auch der Übergang von der Meinung, die Wahrheit schafft, über das sich selbst bestätigende Vorurteil hin zur Verschwörungstheorie fließender. Durch den Hinweis auf falsche Fakten jedenfalls scheint kein Narrativ mehr einzuholen zu sein, das hat sich beim BrexitEntscheid erwiesen. Aber das Prinzip wirkt in alle Richtungen…
Und wirkte auch beim Wahlsieg von Donald Trump. Als Erzählung von Stärke und Freiheit. Ihre Kraft gewann auch sie daraus, die Regeln für solche Geschichten zu zertrümmern, die sonst im realpolitisch geprägten Betrieb herrschen (gerne als Establishment verhöhnt) und im Rahmen der politischen Vernunft (oft verpönt als Political Correctness). Die Macht des Narrativs erreichte hier eine Dimension, wie sie zuletzt herrschte, als es noch um den Kampf der Groß-Ideologien ging. Jetzt ist die Verfügbarkeit der Wirklichkeit innerhalb der Demokratien. Und in Deutschland?
Wie hart die Narrative auch hier inzwischen aufeinanderstoßen, lässt sich ein Jahr vor der Wahl am Erfolg eines Buches ablesen, das zum Bestseller geworden ist. Rainer Wendt hat es geschrieben, langjähriges Mitglied der CDU und Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. Es heißt „Deutschland in Gefahr – Wie ein schwacher Staat unsere Sicherheit aufs Spiel setzt“(Riva, 200 S., 19,99 ¤) und erinnert im Titel an Thilo Sarrazins vormaligen Bestseller „Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“. Auch Sarrazins neues Buch „Wunschdenken“über die Fehler des Regierens in Sachen Europa, Bildung und Einwanderung war in diesem Jahr wieder ein voller Erfolg – Wendt aber liefert das pointiertere Bild von der Gesellschaft im Konflikt der Narrative.
„Sie wollen einen starken Staat? Einen Staat, der unser Zusammenleben regelt? Einen Staat, der Regeln nicht nur aufstellt, sondern auch ihre Beachtung überwacht?“, fragt der Polizist eingangs. Und rät: „Dann sollten Sie falsch parken.“Denn auf allen anderen Gebieten sei der Staat „dann mal weg“. Weg wie der an den Schulen zum Facility Manager outgesourcte und damit im Kern nun fehlende Hausmeister.
Es verwundert nicht, dass Wendt als Polizist mehr Sicherheit und Polizei fordert, einen stärkeren Staat mit mehr Kontrollgewalt. Und beim Titel „Deutschland in Gefahr“ist zu erwarten, dass er Zahlen aufrechnet wie die, dass momentan 600 000 abgelehnte Asylbewerber und zusätzlich hunderttausende, oft unregistrierte eben in der Hilflosigkeit, die diese Gesellschaft und ihre Gerichte gegenüber kriminellen und integrationsunwilligen Migranten zeigten. So kann für Wendt die Antwort in dieser Erzählung nur lauten: Ein stärkerer Staat, der entschlossen für Ordnung und Klarheit sorgt.
„Genau das vermissen viele Leute heute. Deshalb haben sie Angst und Sorge. Weil sie einen Staat sehen, der schwach ist, harmlos und hilflos, der seinen Schutzauftrag nicht ausreichend erfüllt. Einen Staat, der sich zurückzieht und zusieht, der eben alles andere als ein starker Staat ist … Deshalb ist Deutschland in Gefahr.“Das Narrativ der AfD soll da im Vergleich beschränkt wirken. Andere Erzählungen seien ohnehin nichts als „Beschwichtigungsrhetorik“. Zu erkennen an Sätzen wie: „Man muss die Zivilgesellschaft stärken“; „man muss viel mehr differenzieren“; „auch Deutsche begehen schließlich Straftaten“; „wir brauchen mehr Projekte“…
So zeigt Wendts Narrativ klare Kante etwa gegen Menschen wie Carolin Emcke, die den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt und in ihrer Preisrede wie in ihrem Buch „Gegen den Hass“für eine offene Gesellschaft sprach. Aber auch gegen die Chefin der CDU, Kanzlerin Merkel, die etwa kürzlich beim Integrationsgipfel eine größere Öffnung für Migranten forderte. Solchen Erzählungen wirft Wendt ideologische Blindheit für die wirklichen Verhältnisse vor. Dabei ist auch sein Buch eine Stimmungsund keine Tatsachenschrift.
Sonst müsste man beginnen, ihm vorzuhalten, dass der Unmut über die Jugend seit Sokrates vor 5000 Jahren nie ausgesetzt hat; dass Polizeiwissenschaftler Rafael Behr sagt, Respektlosigkeit gegenüber der Polizei sei nichts Neues und angesichts etwa der 50er und 70er Jahre auch auf keinem Höchststand, sondern bloß die Berichterstattung darüber; dass laut Bundeskriminalamt Zuwanderer nicht krimineller sind als Deutsche, die Zahl der von ihnen begangenen Straftaten rückläufig ist … Ausgerichtet wäre damit nichts. Denn auch der Wahlkampf in Deutschland wird einer der Narrative sein. Für welche Erzählung sich Merkels und Wendts Partei entscheiden wird? Und für welche Wahrheit dann der Wähler?