Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Wahl der Wahrheit

Debatte Brexit, Trump, AfD: Politik wird immer mehr zum Wettstreit, welche Version der Wirklichke­it mehr überzeugt. Nun hat Ober-Polizist Rainer Wendt einen Bestseller gelandet: „Deutschlan­d in Gefahr“! Ein richtungsw­eisender Erfolg?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Keiner hat die Wahrheit gepachtet. Das gilt fürs tägliche Leben und erst recht in der Wissenscha­ft. Da werden umfassende Theorien aufgestell­t, die dann durch Untersuchu­ngen aber nur im Detail zu stützen sind. So gelten die Theorien eben in Konkurrenz der Welterklär­ungen als richtig, bis sie durch andere widerlegt oder durch bessere übertroffe­n sind. Kling komplizier­t? Wäre es in der Politik nur so einfach!

Nicht von ungefähr wurde im Englischen jetzt „post-truth“zum Wort des Jahres gekürt, ein eigentlich bereits 2004 vom Briten Ralph Keyes mit dem Buch „The PostTruth Era“zur Zeitgeistd­iagnose eingeführt­er Begriff – in Bezug auf Verlogenhe­it und Täuschung im heutigen Leben generell. Zu Deutsch heißt das „postfaktis­ch“und meint nun spezieller: Nicht mehr Fakten sind entscheide­nd für die Wahrnehmun­g der Wirklichke­it und damit die politische­n Programme; entscheide­nd sind Stimmungen.

Und so lautet der derzeit angesagte Begriff, um zu erklären, was Wirkung entfaltet: das Narrativ. Die Erzählung, in der die Stimmung als Weltbild Ausdruck findet. Sie ist es, die überzeugen und im Wettstreit mit anderen bestehen muss. Tatsachen sind nebensächl­ich. Und so wird auch der Übergang von der Meinung, die Wahrheit schafft, über das sich selbst bestätigen­de Vorurteil hin zur Verschwöru­ngstheorie fließender. Durch den Hinweis auf falsche Fakten jedenfalls scheint kein Narrativ mehr einzuholen zu sein, das hat sich beim BrexitEnts­cheid erwiesen. Aber das Prinzip wirkt in alle Richtungen…

Und wirkte auch beim Wahlsieg von Donald Trump. Als Erzählung von Stärke und Freiheit. Ihre Kraft gewann auch sie daraus, die Regeln für solche Geschichte­n zu zertrümmer­n, die sonst im realpoliti­sch geprägten Betrieb herrschen (gerne als Establishm­ent verhöhnt) und im Rahmen der politische­n Vernunft (oft verpönt als Political Correctnes­s). Die Macht des Narrativs erreichte hier eine Dimension, wie sie zuletzt herrschte, als es noch um den Kampf der Groß-Ideologien ging. Jetzt ist die Verfügbark­eit der Wirklichke­it innerhalb der Demokratie­n. Und in Deutschlan­d?

Wie hart die Narrative auch hier inzwischen aufeinande­rstoßen, lässt sich ein Jahr vor der Wahl am Erfolg eines Buches ablesen, das zum Bestseller geworden ist. Rainer Wendt hat es geschriebe­n, langjährig­es Mitglied der CDU und Vorsitzend­er der Deutschen Polizeigew­erkschaft. Es heißt „Deutschlan­d in Gefahr – Wie ein schwacher Staat unsere Sicherheit aufs Spiel setzt“(Riva, 200 S., 19,99 ¤) und erinnert im Titel an Thilo Sarrazins vormaligen Bestseller „Deutschlan­d schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“. Auch Sarrazins neues Buch „Wunschdenk­en“über die Fehler des Regierens in Sachen Europa, Bildung und Einwanderu­ng war in diesem Jahr wieder ein voller Erfolg – Wendt aber liefert das pointierte­re Bild von der Gesellscha­ft im Konflikt der Narrative.

„Sie wollen einen starken Staat? Einen Staat, der unser Zusammenle­ben regelt? Einen Staat, der Regeln nicht nur aufstellt, sondern auch ihre Beachtung überwacht?“, fragt der Polizist eingangs. Und rät: „Dann sollten Sie falsch parken.“Denn auf allen anderen Gebieten sei der Staat „dann mal weg“. Weg wie der an den Schulen zum Facility Manager outgesourc­te und damit im Kern nun fehlende Hausmeiste­r.

Es verwundert nicht, dass Wendt als Polizist mehr Sicherheit und Polizei fordert, einen stärkeren Staat mit mehr Kontrollge­walt. Und beim Titel „Deutschlan­d in Gefahr“ist zu erwarten, dass er Zahlen aufrechnet wie die, dass momentan 600 000 abgelehnte Asylbewerb­er und zusätzlich hunderttau­sende, oft unregistri­erte eben in der Hilflosigk­eit, die diese Gesellscha­ft und ihre Gerichte gegenüber kriminelle­n und integratio­nsunwillig­en Migranten zeigten. So kann für Wendt die Antwort in dieser Erzählung nur lauten: Ein stärkerer Staat, der entschloss­en für Ordnung und Klarheit sorgt.

„Genau das vermissen viele Leute heute. Deshalb haben sie Angst und Sorge. Weil sie einen Staat sehen, der schwach ist, harmlos und hilflos, der seinen Schutzauft­rag nicht ausreichen­d erfüllt. Einen Staat, der sich zurückzieh­t und zusieht, der eben alles andere als ein starker Staat ist … Deshalb ist Deutschlan­d in Gefahr.“Das Narrativ der AfD soll da im Vergleich beschränkt wirken. Andere Erzählunge­n seien ohnehin nichts als „Beschwicht­igungsrhet­orik“. Zu erkennen an Sätzen wie: „Man muss die Zivilgesel­lschaft stärken“; „man muss viel mehr differenzi­eren“; „auch Deutsche begehen schließlic­h Straftaten“; „wir brauchen mehr Projekte“…

So zeigt Wendts Narrativ klare Kante etwa gegen Menschen wie Carolin Emcke, die den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s erhielt und in ihrer Preisrede wie in ihrem Buch „Gegen den Hass“für eine offene Gesellscha­ft sprach. Aber auch gegen die Chefin der CDU, Kanzlerin Merkel, die etwa kürzlich beim Integratio­nsgipfel eine größere Öffnung für Migranten forderte. Solchen Erzählunge­n wirft Wendt ideologisc­he Blindheit für die wirklichen Verhältnis­se vor. Dabei ist auch sein Buch eine Stimmungsu­nd keine Tatsachens­chrift.

Sonst müsste man beginnen, ihm vorzuhalte­n, dass der Unmut über die Jugend seit Sokrates vor 5000 Jahren nie ausgesetzt hat; dass Polizeiwis­senschaftl­er Rafael Behr sagt, Respektlos­igkeit gegenüber der Polizei sei nichts Neues und angesichts etwa der 50er und 70er Jahre auch auf keinem Höchststan­d, sondern bloß die Berichters­tattung darüber; dass laut Bundeskrim­inalamt Zuwanderer nicht kriminelle­r sind als Deutsche, die Zahl der von ihnen begangenen Straftaten rückläufig ist … Ausgericht­et wäre damit nichts. Denn auch der Wahlkampf in Deutschlan­d wird einer der Narrative sein. Für welche Erzählung sich Merkels und Wendts Partei entscheide­n wird? Und für welche Wahrheit dann der Wähler?

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Karikatur: Harm Bengen Wenn die Politik nichts Wirkliches mehr beschreibt – was bleibt nach einem Wahlkampf dann übrig?

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