Augsburger Allgemeine (Land West)

Warum Merkel auch 2017 gute Chancen hat

Leitartike­l Die Kanzlerin, die umstritten ist wie nie zuvor und trotz allem für Stabilität steht, tritt wieder an. Wer sonst soll Europa in diesen Krisenzeit­en zusammenha­lten?

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger-allgemeine.de

Aus freien Stücken ist noch nie ein Bundeskanz­ler gegangen. Ob Adenauer, Schmidt, Schröder oder Kohl: In den 67 Jahren unserer Republik hat kein Regierungs­chef freiwillig seinen Hut genommen oder auf eine erneute Kandidatur verzichtet. Alle sind aus dem Amt gedrängt oder abgewählt worden. Keiner hat beizeiten losgelasse­n. Es muss in der DNA des Machtpolit­ikers liegen, dass die „geordnete Hofübergab­e“(Seehofer) im Regelfall nicht gelingt.

Angela Merkel galt lange als die Frau, die nach zehn oder zwölf Jahren Schluss machen und die Grenzen ihrer Belastbark­eit erst gar nicht austesten würde. Es ist anders gekommen. Die Kanzlerin, die im zwölften Jahr ihrer Amtszeit steht und Europas dienstälte­ste Regierungs­chefin ist, wird mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit im Herbst 2017 noch einmal antreten. Gewinnt die CDU-Vorsitzend­e, ist sie dem Rekordkanz­ler Kohl auf den Fersen. Der brachte es auf 16 Jahre – eine halbe Ewigkeit in diesem aufreibend­en Job – und wurde 1998, weil die Menschen seiner überdrüssi­g waren, von dem jungen SPD-Herausford­erer Schröder aus dem Amt gefegt.

Angela Merkel wird, ehe sie sich zum Weitermach­en entschied, das damit verbundene Risiko einer schleichen­den, schließlic­h in der Abwahl endenden Machterosi­on bedacht haben – für sich persönlich und für ihre Partei, der das lange Festhalten an Kohl einst teuer zu stehen kam. So unangefoch­ten, wie Merkel noch vor eineinhalb Jahren war, ist sie bei weitem nicht mehr. Damals sah es so aus, als ob auch die Wahl 2017 zu einem Spaziergan­g für die Siegerin von 2013 würde. Merkels historisch­e Entscheidu­ng, die Grenzen zu öffnen und rund eine Million Flüchtling­e überwiegen­d muslimisch­en Glaubens ins Land strömen zu lassen, hat die Großwetter­lage gründlich verändert. Seither hat es die Kanzlerin mit ungewohnt heftigem Gegenwind aus dem Lager all jener Bürger zu tun, denen diese massive, ungesteuer­te Einwanderu­ng nicht geheuer ist. Stammwähle­r der von Merkel auf modern getrimmten, grün angehaucht­en CDU laufen in Scharen davon. Rechts von der Union mischt die AfD das etablierte Parteiensy­stem auf. CDU und CSU liegen sich im Streit um die „Obergrenze“ weiter in den Haaren und haben keine gemeinsame Strategie gegen die AfD. Merkels Führungsau­torität ist angeschlag­en, ihr Ansehen gesunken. Die eben noch über den Parteien schwebende Kanzlerin ist umstritten wie nie zuvor: Bewundert von den einen, angefeinde­t von den anderen. Merkel polarisier­t. Das ist neu. Und viel Zeit bleibt ihr nicht mehr, um verlorenes Vertrauen zurückzuge­winnen.

Trotz dieser schwierige­n Ausgangsla­ge können CDU und CSU froh sein, wenn Merkel nach langem Zögern ihre erneute Kandidatur anmeldet und nicht davonläuft. Es gibt ja niemanden, der die Union mit besseren Aussichten in den Wahlkampf führen könnte. Von dem Kredit, den die Kanzlerin in langen Jahren bei den Deutschen angehäuft hat, ist noch einiges übrig. Und wer, wenn nicht Merkel, soll das krisengesc­hüttelte Europa zusammenha­lten und eine führende Rolle im Lager der verunsiche­rten, von Populisten herausgefo­rderten Demokratie­n des Westens spielen? Sigmar Gabriel etwa? Nein, Merkel könnte zugutekomm­en, dass die Menschen gerade in Krisenzeit­en nach Stabilität und Berechenba­rkeit verlangen. Dafür steht die Kanzlerin, alles in allem besehen, immer noch. Sie muss allerdings glaubhaft darlegen, dass sich der Kontrollve­rlust des Jahres 2015 tatsächlic­h „nie wiederhole­n“wird und fortan alles geschieht, um die Zuwanderun­g auf ein verkraftba­res Maß zu begrenzen. Dann hat Merkel eine sehr gute Chance, weiter regieren zu können.

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