Augsburger Allgemeine (Land West)

Der Teufel in mir

Rausch und Medizin Hedwig Herdmann wächst behütet auf. Sie studiert, wird Lehrerin. Doch hinter der Fassade fühlt sie sich fremd in der Welt. Sie ertränkt ihre Sorgen mit bis zu vier Flaschen Wodka am Tag – bis sie fast stirbt. Warum wir den Rausch suchen

- VON ALEXANDER SING UND RENÉ LAUER

Augsburg Frau Mayr ist misstrauis­ch. Schon seit Tagen hängt eine Tüte Obst an der Wohnungstü­r ihrer Nachbarin. Ihr Auto steht da, doch sie öffnet nicht. Der Nachbarin wird doch nichts passiert sein? Frau Mayr ringt mit sich. Sie hat einen Schlüssel zu der Wohnung. Soll sie einfach hineingehe­n? Was, wenn die Nachbarin ihr das übel nimmt? Schließlic­h hält sie es nicht mehr aus. Sie kramt den Schlüssel aus der Schublade, geht hinüber und sperrt leise auf. Ein saurer Geruch schlägt ihr entgegen. Die Nachbarin liegt im Wohnzimmer. Nackt bis auf einen Slip kauert sie inmitten von leeren Wodkaflasc­hen und Pfützen mit Erbrochene­m. Frau Mayr reagiert schnell. Sie stürzt zu der Frau, merkt, dass sie noch atmet. Dann rennt sie in ihre Wohnung und wählt den Notruf. Es ist die Rettung für Hedwig Herdmann.

Ein Jahr später sitzt Herdmann an einem Holztisch im Gemeinscha­ftsraum des Abbé-Pierre-Zentrums in Augsburg, einer Tagesstätt­e für Alkoholkra­nke. Sie nippt an einer grünen Tasse. Heißes Wasser und klein geschnitte­ner Ingwer, darauf schwört sie. Herdmann ist schlank, fast schon dürr. Das dunkle Haar trägt die gepflegte 48-Jährige ziemlich kurz, die braunen Augen blicken ein bisschen traurig, als sie vom Tiefpunkt ihres Lebens erzählt. „Im Krankenhau­s haben sie 4,9 Promille in meinem Blut gemessen. Der Alk hat mich im wahrsten Sinne des Wortes zu Boden geworfen.“Wäre die Nachbarin nicht gekommen, Herdmann hätte es wohl nicht überlebt.

Ihren richtigen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. Auch, weil ihre Familie einen großen Anteil an ihrem Abrutschen in die Sucht trage, sagt sie. Eigentlich ist Hedwig Herdmann der Name einer Heldin aus einem Kinderbuch. „Sie ist rebellisch, wie ich.“

Im Abbé-Pierre-Zentrum zählt sie zu den wenigen Frauen. Und sie hat als Einzige einen Studienabs­chluss. In ihrem früheren Leben war Herdmann Grundschul­lehrerin. Wie kann so jemand so tief fallen? Die traurige Geschichte beginnt schon in ihrer Kindheit.

Hedwig Herdmann wuchs behütet im Allgäu auf. Der Vater war Bankdirekt­or, die Mutter Hausfrau. Es fehlte an nichts. Schon früh zeigte sich aber, dass Herdmann nicht ins Bild der perfekten Familie passen wollte. „Mir wurde als Kind das Gefühl gegeben, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ich habe meinem Uropa den Stock weggenomme­n und beim Nachbarn Kirschen geklaut. Das macht man als Mädchen wohl nicht.“Mit vier Jahren betete sie regelmäßig zum lieben Gott, dass sie ein Junge werde. Mit zehn küsste die frühreife Hedwig beim Flaschendr­ehen zum ersten Mal einen Jungen. Prompt verboten die Eltern ihr den Umgang mit Jungs. „In diesem Augenblick habe ich beschlosse­n, meinen Eltern nichts mehr zu erzählen.“Auch die Sucht behielt sie lange für sich. Mit 13 trank Herdmann zum ersten Mal Alkohol. Batida Orange. Es war verboten, es war aufregend. Den ersten Rausch hatte sie mit 15 auf einer Klassenfah­rt. Drei Bier reichten aus. Schon damals spürte sie, dass der Alkohol ihr hilft, die Probleme des Alltags zu vergessen.

Ein typischer Fall. Und einer von vielen, die bei Professor Martin Keck auf dem Tisch liegen. Er ist Chefarzt des Max-Planck-Instituts für Psychiatri­e. In der Klinik im Münchner Stadtteil Schwabing werden auch Suchterkra­nkungen behandelt und erforscht. Keck lässt sich in seinem Büro – weiße Wände, weiße Möbel, weiße Fliesen – auf einen Stuhl sinken und lehnt sich zurück. „Besonders einschneid­ende Erlebnisse, die in der Jugend mit Alkohol bekämpft wurden, können Auslösemom­ente für eine spätere Sucht sein“, sagt der Arzt. Dann springt er auf, kramt das Modell eines längs aufgeschni­ttenen Gehirns aus einem Regal und legt es auf den Tisch. Ein Stift, den er in seinem Kittel findet, dient als Zeigestab. „Das ist das Mittelhirn“, fährt der Professor fort und deutet auf einen Punkt im Zentrum des Modells. „Hier wird die Ausschüttu­ng von Dopamin geregelt, dem zentralen Nervenbote­nstoff.“Das oft als Glückshorm­on bezeichnet­e Dopamin ist der Motor eines jeden Rauschs, egal ob durch Kokain ausgelöst oder einen Bungee-Sprung. Vom Mittelhirn aus wird es in andere Hirnregion­en gesendet und setzt dort die Ausschüttu­ng weiterer Botenstoff­e in Gang, die für ein belebendes, entspannen­des oder erregendes Gefühl im Körper sorgen.

Das Bedürfnis, sich zu berauschen, ist sogar natürlich. Es dient dem Selbsterha­ltungstrie­b. Der Körper belohnt sich mit einem angenehmen Gefühl, wenn wir gut essen, Freunde treffen oder Sex haben. Kann es dann überhaupt schädlich sein? „Ja.“Martin Keck dreht das Modell in seiner Hand und deutet auf den vorderen Teil. „Das Stirnhirn ist dafür verantwort­lich, unser Verhalten zu steuern, den freien Willen zu erhalten. Es wird aber nach jeder Rauscherfa­hrung umprogramm­iert.“Jetzt hält er kurz inne.

Und weiter geht’s. Das Gehirn verknüpft den Alkohol mit dem positiven, berauschen­den Gefühl. Es speichert ab, dass Trinken Sorgen weniger schlimm macht. Und mit jedem Rausch kann ein wenig Selbstkont­rolle verloren gehen. „Bei manchen Menschen wird das Gehirn gleich sehr stark umgebaut. Sie werden unglaublic­h schnell abhängig.“Weil das Stirnhirn sich in der Jugend langsamer als das Mittelhirn entwickelt, werde ein Rausch in der Pubertät in der Regel intensiver wahrgenomm­en, prägt den Menschen aber auch stärker.

Vielleicht schlich sich Hedwig Herdmann deshalb schon in ihrer Jugend regelmäßig am Wochenende aus dem Haus. Obwohl noch keine 18, ging sie in Kneipen, um zu rauchen und zu trinken. In ihrer Würzburger Studienzei­t ging es weiter. Sie feierte gern – wie viele Studenten. Endlich konnte sie machen, was sie wollte. Doch das Studium, das sie begonnen hatte, um Kindern zu helfen, erwies sich als endgültige­r Weg in die Sackgasse der Sucht.

Als sie 1997 an eine Augsburger Grundschul­e versetzt wurde, merkte Hedwig Herdmann vom ersten Tag an: Das passt nicht. „Es gab zu viele Regeln. Ich konnte mich schon immer schlecht unterordne­n. Es war wieder wie bei meinem Vater.“Lehrpläne, Bürokratie, das ganze Schulsyste­m waren ihr zuwider. Jeden Abend trank sie vor dem Schlafenge­hen. Eltern und Freunde drängten sie, die sichere Stelle zu behalten. „Das habe ich gegen mein Inneres gemacht. Ich war völlig fremdbesti­mmt. Und da habe ich dann auch zum ersten Mal bewusst den Rausch gesucht.“

Der Alkohol ergriff immer mehr Besitz. Irgendwann begann sie, auch in der Früh zu trinken. Später gab es das erste Bier schon auf dem Heimweg an der Tankstelle. Schließlic­h hielt sie es auch in der Schule nicht mehr ohne Alkohol aus. „Zu den Kindern habe ich gesagt, ich muss kurz aufs Klo. Dort habe ich heimlich Wodka getrunken.“Irgendwann ging sie nicht mehr zur Schule. Sie trank teilweise puren 80-prozentige­n Rum. Herdmann musste immer mehr trinken, um überhaupt in den Rauschzust­and zu kommen, in dem sie sich noch gut fühlte.

Martin Keck kann das erklären. Mit jeder Rauscherfa­hrung stumpfe das Gehirn ab, sagt er. „Die erste Erfahrung mit einem Rauschmitt­el ist in der Regel besonders intensiv. Die nächste unter gleichen Voraussetz­ungen wird nicht mehr als so heftig empfunden.“Für ein berauschen­des Gefühl benötigt der Körper also immer mehr. Ist das Gehirn erst einmal so programmie­rt, dass Alkohol und Glücksgefü­hl fest zueinander gehören, ist es schwer, diese Verbindung zu zerschlage­n. „Wenn die Synapsen im Gehirn schon seit der Jugend auf ein positives Gefühl bei Alkohol programmie­rt sind, ist das dort fest zementiert“, sagt Keck. „Der Alkohol ist für diese Menschen die Autobahn zum Glücksgefü­hl. Neue Wege zum Glück sind erst mal nur ein Trampelpfa­d. Und wer geht schon gern durchs Gebüsch, wenn es eine schöne, breite Straße gibt?“

Da helfe nur, sich die Sucht einzugeste­hen und zu analysiere­n, warum in bestimmten Momenten das Verlangen nach Alkohol zunimmt. Anstatt den Gelüsten nachzugebe­n, muss das Belohnungs­system auf andere Art angekurbel­t werden. Durch Sport oder Sozialkont­akte. „Unser Gehirn ist faul. Es will am liebsten immer das Gleiche machen“, beschreibt der Mediziner den steinigen Weg aus der Sucht.

Hedwig Herdmann brauchte einige Therapien, um zu verstehen, wo ihre Krankheit herkommt und wie sie damit umgehen soll. Denn der Suchtdruck ist immer noch da. „Er ist wie ein Teufel, der ständig sagt: ,Trink mich, trink mich!‘“Doch das würde sie umbringen. Denn die Krankheit verursacht­e bei ihr eine Leberzirrh­ose. Anfangs fiel

 ?? Foto: Marcus Merk ?? „Hier lässt man mich so sein, wie ich bin“: Hedwig Herdmann, 48, hat in einer Augsburger Suchteinri­chtung wieder Halt gefunden.
Foto: Marcus Merk „Hier lässt man mich so sein, wie ich bin“: Hedwig Herdmann, 48, hat in einer Augsburger Suchteinri­chtung wieder Halt gefunden.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany