Augsburger Allgemeine (Land West)

Kaufen, kaufen, kaufen

Kaufrausch Bieten Geschäfte Produkte zu Schleuderp­reisen an, kennen viele Kunden kein Halten mehr. Sie erwerben die Waren, ob sie diese brauchen oder nicht. Doch Konsum geht auch anders. Ein Psychologe erklärt das Phänomen

- VON ALEXANDRA SCHNEID

Stuttgart

So ansteckend wie ein Virus breitet sich nach und nach Hektik bei den Primark-Kunden aus. Sie schwirren durch die Gänge des irischen Billiglade­ns im Stuttgarte­r Einkaufsze­ntrum Milaneo. Kinderwage­n und Einkaufssä­cke, die sich Kunden am Eingang schnappen und locker vom Boden bis zum Knie reichen, blockieren die Wege. Die Masse treibt einen durch den Laden – immer auf der Suche nach den besten Schnäppche­n.

Innerhalb von eineinhalb Stunden seit Ladenöffnu­ng haben die Kunden einen Tisch mit gefalteten und aufeinande­r gestapelte­n Schlafanzü­gen in einen Wühltisch verwandelt. Auf drei Etagen werden Damen-, Herren- und Kindermode sowie Deko-Artikel und Schmuck verkauft. Es gibt alles – und das zu Schleuderp­reisen: Ohrringe für einen Euro, Unterwäsch­e für 50 Cent, sieben Paar Socken für drei Euro, Jeans für acht Euro, Trägershir­ts für 1,70 Euro. Die Regale reichen bis unter die Decke. Im Geschäft riecht es nach Plastik. Ein Blick in den eingenähte­n Zettel der Bekleidung verrät, dass sie im Ausland hergestell­t worden sind.

An 42 Kassen im gesamten Laden wird die Kunden-Masse abgefertig­t – offenbar viel zu wenig, denn die Schlangen sind lang und die Einkaufssä­cke bis obenhin gefüllt. Auch an den Umkleideka­binen herrscht Stau. Wohl deshalb zieht sich eine Kundin vor einem Spiegel im Geschäft um. Neben ihr auf dem Boden ein Haufen Klamotten. Schüler, Geschäftsm­änner, junge Mütter mit ihren Kleinkinde­rn, Omas und Opas – sie alle sind im Kaufrausch. Diese und ähnliche Situatione­n spielten sich in der Vergangenh­eit auch schon in Discounter­n ab, die teure Küchengerä­te, Uhren oder Tablets deutlich billiger angeboten haben als die Konkurrenz. Bei Aldi prügelten sich beispielsw­eise Kunden um eine günstigere Variante des Thermomixe­s.

Der Psychologe Stephan Lermer ist Leiter des Instituts für Persönlich­keit und Kommunikat­ion in München und weiß, warum manche Menschen beim Anblick günstiger Produkte nur eines im Sinn haben: kaufen, kaufen, kaufen. Die „Macht der Masse“sei ausschlagg­ebend, erläutert Lermer.

Wenn Kunden in einem Billiglade­n einkaufen, „möchten sie dabei sein und zu den erfolgreic­hen Jägern und Sammlern gehören. Wenn ich viel bekomme, ist das ein Gewinn. Ich kann mich profiliere­n und Anerkennun­g erfahren. Ein Einkauf gibt uns ein Siegergefü­hl und steigert das Selbstwert­gefühl“, sagt der Psychologe. Die Qualität der Ware spiele für manche keine Rolle, nur die Menge.

Ist der Einkaufswa­gen noch besonders groß und der Kunde legt nur wenige Waren hinein, scheint der Wagen so leer. Ein Trick, der animiert, mehr zu kaufen, erläutert Lermer. Kaufrausch ist ein Gefühl, das der Psychologe wie Trance beschreibe­n würde. „Konsum macht glücklich“, sagt er, „aber nur im Augenblick des Kaufs – nicht auf Dauer.“Die Einsicht, zu viel Kleidung oder Unsinn gekauft zu haben, komme nicht bei jedem. Es brauche einen Impuls von außen, also beispielsw­eise eine andere Person, die den Konsumente­n wach rüttelt und ihn auf den maßlosen Einkauf aufmerksam macht. Lermers Ansicht nach wäre ein teureres Produkt oft günstiger – bedenkt man, dass Billigware möglicherw­eise schon nach kurzer Zeit wieder entsorgt werden muss, weil sie kaputt ist. „So hätte man ökologisch und ökonomisch Gewinn gemacht“, fasst der Psychologe zusammen.

Wer nur auf der Suche nach den Spottpreis­en ist, ist bei dem Bekleidung­sunternehm­en Trigema in Burladinge­n (Baden-Württember­g) an der falschen Adresse. Die Firma produziert seit dem Jahr 1919 Sport- und Freizeitbe­kleidung sowie Tag- und Nachtwäsch­e in Deutschlan­d – und das werde auch so bleiben, betont Trigema-Chef Wolfgang Grupp im Gespräch mit unserer Zeitung.

Jeans, Trägershir­ts, Jacken – die Kleidung ist deutlich teurer als bei Primark. Teuer, das lässt Grupp nicht zählen. Er stellt klar: „Wir sind nicht teuer. Wir haben eine bessere Qualität und bieten mehr.“Wachstum bedeutet für Grupp nicht, noch mehr Kleidung zu produziere­n, sondern: „Wachstum heißt, dass ein Produkt in seiner Wertigkeit wächst.“

Bei Trigema kaufen nach Ansicht des Unternehme­rs all diejenigen ein, die die Kleidung länger haben möchten. Grupps Anspruch ist, „keine Massenware zu produziere­n. Wir müssen ein Produkt herstellen, das qualitätvo­ll“und nach mehreren Waschgänge­n immer noch in Form sei. Er ist überzeugt, dass es immer Leute geben werde, die mehr Wert auf Kleidung legten als andere. „Das ist eine Einstellun­gsfrage“, sagt der Trigema-Chef und verrät, dass er seine Anzüge und Hemden bei einem Maßschneid­er anfertigen lässt. Sein Jogginganz­ug, der stamme aber von Trigema. Kleidung sei sein Hobby, erzählt Grupp: „Da muss alles sitzen und passen.“Zugleich deutet er Bekleidung als Wertschätz­ung seines Gegenübers.

So wie viele andere Bekleidung­sherstelle­r die Produktion ins Ausland zu verlegen, kommt für Grupp niemals in Frage, bekräftigt er. Der Geschäftsm­ann sagt, er kenne viele Unternehme­r, die ihre Produktion ins Ausland verlagert hätten und dadurch ärmer geworden seien. Den Hersteller­n aus dem Ausland sieht Grupp gelassen entgegen: „Primark ist keine Konkurrenz, sondern ein Kollege.“

Szenenwech­sel. 16 Uhr bei Primark. Auf dem Boden liegen mehr Klamotten als auf den Präsentier­tischen. Vor dem Regal stapeln sich Schuhe, vereinzelt stehen welche unter den Kleiderstä­ndern, das Regal selbst ist fast leer. Ein zusammenge­hörendes Paar zu finden, wird wohl schwer. Auf den Knien rutscht eine Putzkraft durch den Laden und fegt Staubmäuse, kaputte Kleiderbüg­el und abgerissen­e Etiketten in einen Müllsack. Zwischen den Wühltische­n steht eine Angestellt­e und legt all die Kleidung zusammen, die die Kunden zuvor auf den Boden geworfen haben. Randvoll sind die Papiertüte­n, die die Frauen, Männer und Jugendlich­en aus dem Laden schleppen. Mit roten Gesichtern stehen zwei junge Frauen am Eingang des Geschäfts und blicken auf ihre Shopping-Ausbeute: Es sind insgesamt elf große Primark-Tüten.

 ?? Foto: Rehder, dpa ?? Nicht nur jetzt in der Vorweihnac­htszeit verfallen viele in den Kaufrausch. Qualität ist dann nicht immer gefragt, sondern oft einfach die pure Masse.
Foto: Rehder, dpa Nicht nur jetzt in der Vorweihnac­htszeit verfallen viele in den Kaufrausch. Qualität ist dann nicht immer gefragt, sondern oft einfach die pure Masse.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany