Augsburger Allgemeine (Land West)
Abgehängt
Das Gefühl der Stunde? Ist es Wut? Ist es Angst? Der Novemberblues? Verunsicherung? Auch und sowieso. Aber von keinem Gefühl ist so viel die Rede wie vom Gefühl, abgehängt zu sein. Es ist das entscheidende Gefühl unserer Zeit: Leute fühlen sich abgehängt. Wer hat Donald Trump gewählt? Leute, die sich abgehängt fühlen, heißt es. Leute vom Land, die sich von den Städtern abgehängt fühlen. Wer ist anfällig für rechtspopulistisches Gedöns in Europa? Leute, die sich abgehängt fühlen. Mit diesem Erklärungsmuster, das eigentlich nur ein Eindruck ist, kommt man derzeit einmal schlau um die Welt. Wieso, weshalb, warum? Nicht fragen, sondern Fühler ausstrecken.
Die neue Zauberformel der gesellschaftlichen und politischen Analyse wird aus der Distanz gefühlt, nicht aus der Nähe gewusst. Abhängen war gestern, sich abgehängt fühlen ist heute. Gefühltes wird ganz hochgehängt.
Vorbei die Zeiten, als nur Bilder und Zimmerdecken und Autos mit wenig PS abgehängt wurden. Jetzt werden ganze Milieus und Gesellschaftsschichten und Wählergruppen abgehängt, abgekoppelt, abgeschüttelt. Alles eine Gefühlssache. Die gefühlt Abgehängten sind Zurückgelassene. Sie haben den Anschluss verpasst. Genauer: Sie haben das Gefühl, den Anschluss verpasst zu haben. Ökonomisch, sozial, imagemäßig, in jedem Fall: irgendwie. Was macht man mit den sich irgendwie abgehängt Fühlenden? Mitfühlen? Auch da gibt es Strategie-Leerformeln und PlaceboRezepte zuhauf. Die wichtigsten: Zuhören. Mitnehmen. Mitgenommen sein und mitgenommen aussehen ist unschön. Mitgenommen werden dagegen eine feine Sache.
Wenn das so weiter geht und auf diffuser Gefühlsbasis Volksverstimmungen aller Art erspürt und ganze Milieus als verloren hingehängt werden, dann stehen wir vor einem Systemwechsel. Dann wird das Prinzip von Exekutive, Legislative, Judikative irgendwann ersetzt durch ungeteilte Emotion. Alle Gefühlsgewalt geht vom Volk aus.