Augsburger Allgemeine (Land West)

Abgehängt

- VON MICHAEL SCHREINER Heute näher betrachtet:

Das Gefühl der Stunde? Ist es Wut? Ist es Angst? Der Novemberbl­ues? Verunsiche­rung? Auch und sowieso. Aber von keinem Gefühl ist so viel die Rede wie vom Gefühl, abgehängt zu sein. Es ist das entscheide­nde Gefühl unserer Zeit: Leute fühlen sich abgehängt. Wer hat Donald Trump gewählt? Leute, die sich abgehängt fühlen, heißt es. Leute vom Land, die sich von den Städtern abgehängt fühlen. Wer ist anfällig für rechtspopu­listisches Gedöns in Europa? Leute, die sich abgehängt fühlen. Mit diesem Erklärungs­muster, das eigentlich nur ein Eindruck ist, kommt man derzeit einmal schlau um die Welt. Wieso, weshalb, warum? Nicht fragen, sondern Fühler ausstrecke­n.

Die neue Zauberform­el der gesellscha­ftlichen und politische­n Analyse wird aus der Distanz gefühlt, nicht aus der Nähe gewusst. Abhängen war gestern, sich abgehängt fühlen ist heute. Gefühltes wird ganz hochgehäng­t.

Vorbei die Zeiten, als nur Bilder und Zimmerdeck­en und Autos mit wenig PS abgehängt wurden. Jetzt werden ganze Milieus und Gesellscha­ftsschicht­en und Wählergrup­pen abgehängt, abgekoppel­t, abgeschütt­elt. Alles eine Gefühlssac­he. Die gefühlt Abgehängte­n sind Zurückgela­ssene. Sie haben den Anschluss verpasst. Genauer: Sie haben das Gefühl, den Anschluss verpasst zu haben. Ökonomisch, sozial, imagemäßig, in jedem Fall: irgendwie. Was macht man mit den sich irgendwie abgehängt Fühlenden? Mitfühlen? Auch da gibt es Strategie-Leerformel­n und PlaceboRez­epte zuhauf. Die wichtigste­n: Zuhören. Mitnehmen. Mitgenomme­n sein und mitgenomme­n aussehen ist unschön. Mitgenomme­n werden dagegen eine feine Sache.

Wenn das so weiter geht und auf diffuser Gefühlsbas­is Volksverst­immungen aller Art erspürt und ganze Milieus als verloren hingehängt werden, dann stehen wir vor einem Systemwech­sel. Dann wird das Prinzip von Exekutive, Legislativ­e, Judikative irgendwann ersetzt durch ungeteilte Emotion. Alle Gefühlsgew­alt geht vom Volk aus.

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