Augsburger Allgemeine (Land West)

Zeitzeugen öffnen den Blick für die Lücke

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Wir stehen vor einer Zeitenwend­e. Siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geht die lebendige Erinnerung an das dunkelste Kapitel deutscher Historie bald zu Ende. Die Reihe „Lebenslini­en“musste erstmals schon ohne Zeitzeugen auskommen. Wie schade, denn diese Menschen hatten Gesicht gezeigt und die Geschichte aus einer distanzier­t-akademisch­en Betrachtun­g befreit. Denn sie erzählten auch aus Jahren, als jüdische Kultur in Augsburg noch selbstvers­tändlich war. Als sie nicht Opfer, sondern Akteure waren.

Fast wäre dieser Blickwinke­l verloren gegangen. Der Blick für die Lücke, die in der Hölle des Hasses mitten unter uns gerissen wurde. Ließen sich Juden in Deutschlan­d wieder nieder, wollten oder konnten sie nicht über ihre Familien reden. Ein Grabtuch des Schweigens einerseits und anderersei­ts Unverständ­nis, dass hier nicht endlich „Normalität“einkehren wollte, breiteten sich aus. Also ging man in ein formalisie­rtes jährliches Gedenken der Gräuel, besonders des Kristallna­cht-Pogroms, über.

Bis Gernot Römer, der ehemalige Chefredakt­eur, begann, ein Netzwerk der überallhin zerstreute­n, ehemaligen jüdischen Augsburger zu knüpfen. Viele Tränen sind seither geflossen – Tränen der Trauer und Tränen des Glücks. Jedes Jahr kamen weitere Exil-Bürger. Der Bezirkshei­matpfleger und das Jüdische Kulturmuse­um setzten die Spurensuch­e wissenscha­ftlich systematis­ch fort. Ein kleines Yad Vashem kam zustande mit Namen, Fotografie­n und Geschichte­n.

Wenn 2017 die große Synagoge ihr hundertjäh­riges Weihefest feiert, wird man noch viel hören über die Hoffnungen, Erwartunge­n und das Selbstbewu­sstsein der jüdischen Augsburger. All das drückt sich im prächtigen Baustil dieses Gebetshaus­es aus. Schmerz und Scham darüber, diese Bürger aus Hass und Verhetzung verjagt zu haben, werden dann unweigerli­ch wachsen. Denn sie waren genauso wie wir.

*** „Intermezzo“ist unsere KulturKolu­mne, in der Redakteure der Kultur- und Journal-Redaktion schreiben, was ihnen die Woche über aufgefalle­n ist.

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