Augsburger Allgemeine (Land West)

Haus der Hoffnung

Weil die Not vor unserer Haustüre uns alle angeht: Im Ellinor-Holland-Haus finden Menschen nach Schicksals­schlägen Schutz und Geborgenhe­it

- / Von Bernhard Junginger

Dass ein Leben aus den Fugen gerät, geschieht oft schleichen­d. Noch vor vier Jahren deutete nichts darauf hin, dass sie einmal Hilfe brauchen würde. Mit ihrem Ehemann und drei schon älteren Kindern lebte sie in gesicherte­n Verhältnis­sen im eigenen Reihenhaus. Als sie noch einmal schwanger wurde, freut sich auch ihr Mann mit ihr. Doch nach einer Untersuchu­ng während der Schwangers­chaft bekommt das Ehepaar die Diagnose, dass das Kind behindert sein wird. „Eine Abtreibung wäre für mich nie infrage gekommen“, sagt sie. „Wenige Tage nach der Diagnose hat sich mein Mann aus dem Staub gemacht – nach 20 Jahren Ehe“, erzählt Marion F., noch immer verbittert. Infolge der Trennung musste sie aus dem gemeinsame­n Haus ausziehen und verarmte. Weil der behinderte Sohn rund um die Uhr Betreuung braucht, konnte sie bislang nicht arbeiten gehen. Die Frau war tief verzweifel­t. Doch mit dem Einzug ins Ellinor-Holland-Haus konnte sie neuen Mut schöpfen. Das neue Zuhause vermittelt Geborgenhe­it und Schutz. So kann sich der Blick wieder auf die Zukunft richten. Und auf dem Weg zurück in ein selbstbest­immtes Leben sind die Bewohner nicht allein.

Anfang des Jahres sind die ersten Bewohner in das Ellinor-Holland-Haus im Augsburger Textilvier­tel gezogen. Die Einrichtun­g im Augsburger Textilvier­tel versteht sich als eine Art begleitete­s Wohnen auf Zeit für Menschen in besonderen Notsituati­onen. Inzwischen sind fast alle der 28 Wohnungen belegt, rund 70 Menschen leben hier, darunter viele Kinder. Das Sozialproj­ekt unseres Leserhilfs­werks Kartei der Not ist weit mehr als nur ein Wohnhaus. Es ist eine Werkstatt, in der die Bewohner an einer besseren Zukunft arbeiten und dabei jede nötige Unterstütz­ung bekommen.

Es war Ellinor Holland, die 2010 verstorben­e Herausgebe­rin unserer Zeitung, die einst mit der Kartei der Not eine einzigarti­ge Erfolgsges­chichte des sozialen Engagement­s begründet hat. Seit mehr als 50 Jahren hilft das Leserhilfs­werk unserer Zeitung nun schon unverschul­det in Not geratenen Menschen aus der Region. Meist geschieht dies in Form einer einmaligen finanziell­en Zuwendung – etwa für ein behinderte­ngerechtes Auto, Kinderklei­der oder dringend benötigte Einrichtun­gsgegenstä­nde. „Die Not vor unserer Haustür geht uns alle an“, hat Ellinor Holland gesagt. Und immer wieder sah sie mit Sorge, dass die Notlagen mancher Men- schen so komplex sind, dass sie mit einem Zuschuss allein nicht zu lösen sind. „Auch für diese Menschen wollte sie etwas tun“, sagen ihre Töchter Ellinor Scherer und Alexandra Holland, die heute die Kartei der Not führen. Aus dem Herzenswun­sch der Mutter entwickelt­en Ellinor Scherer und Alexandra Holland, unterstütz­t von erfahrenen Beratern aus dem Sozialwese­n, das Konzept für das Ellinor-Holland-Haus: Bereits jetzt gilt es als wegweisend.

Dreh- und Angelpunkt im Konzept ist der sogenannte „Kümmerer“. Im richtigen Leben ist der Kümmerer eine Frau. Susanne Weinreich, erfahrene Sozialpäda­gogin, erarbeitet mit allen Bewohnern einen Plan, wie die Notlage bearbeitet werden kann. Laura Weishaupt unterstütz­t sie als weitere pädagogisc­he Fachkraft dabei. In den regelmäßig­en Sprechstun­den gilt das Motto „Fördern und Fordern“. Wenn es sein muss, pocht Susanne Weinreich auch energisch darauf, dass Vereinbaru­ngen eingehalte­n werden. Unangenehm­e Fragen werden nicht ausgespart. Wie steht es um die finanziell­e Situation und die berufliche Zukunft? Oft wurden solche Fragen jahrelang vernachläs­sigt. Viele Probleme erscheinen den Betroffene­n unlösbar. Susanne Weinreich begleitet sie auf ihrem Weg. Mit ihrer Hilfe hat etwa Marion F. erreicht, dass für ihren inzwischen vierjährig­en behinderte­n Sohn eine zeitweise Einzelbetr­euung genehmigt worden ist. Ihrem Ziel, „wieder auf die Beine zu kommen“, ist sie so ein ganzes Stück nähergekom­men.

Gemeinsam geht’s, das ist das Motto der Kartei der Not. Und an diesem Donnerstag­morgen haben zwei vom Schicksal gebeutelte Frauen, die sich bis vor kurzem noch sehr allein fühlten, wieder einmal bewiesen, wie wahr dieser kurze Satz ist. „Als ich aufgestand­en bin, konnte ich kaum atmen“, erzählt Marlene J., die 60-Jährige ist seit langem chronisch krank. Ihre Nachbarin im Ellinor-Holland-Haus, eine alleinerzi­ehende Mutter, die eine schwere persönlich­e Krise durchgemac­ht hat, brachte sie kurzerhand mit ihrem kleinen Wagen zum Arzt und wieder zurück. „Das hätte ich alleine nicht geschafft“, sagt Marlene F., der es viel besser geht, nachdem sie ein Medikament bekommen hat. Sie verspricht der hilfreiche­n Nachbarin, bei Bedarf bald wieder auf deren Kinder aufzupasse­n.

Dass sich die Bewohner auch gegenseiti­g helfen, gehört im Ellinor-Holland-Haus zum Konzept. Aus den Menschen, die hier leben, ist in den vergangene­n Monaten eine eingeschwo­rene Gemeinscha­ft geworden. Jeder bringt sich nach seinen Fähigkeite­n ein. Hier muss keiner seine Notlagen vor den Nachbarn verstecken. Auch unter den vielen Kindern, die im Haus leben, sind schon viele Freundscha­ften entstanden. Die meisten der Mädchen und Buben haben sehr unter den Lebenskris­en ihrer Eltern gelitten. So liegt im Gesamtkonz­ept des Sozialproj­ekts großes Augenmerk darauf, dass der Nachwuchs der Bewohner bestens betreut wird: im EllinorHol­land-Kinderhaus, das in enger Zusammenar­beit vom Arbeiter-Samariter-Bund betrieben wird. Hier werden Mädchen und Buben nach den Prinzipien der Montessori-Pädagogik erzogen. Gemäß der Devise „Hilf mir, es selbst zu tun“soll das Selbstbewu­sstsein gestärkt werden. Die integrativ­e Einrichtun­g bietet rund 70 Krippen-, Kindergart­en- und Hortplätze – auch für Kinder aus der Nachbarsch­aft.

Manchmal dringt das Kinderlach­en bis ins kleine Restaurant im EllinorHol­land-Haus. Dort steht heute Kartoffelp­fanne mit Schafskäse auf der Tageskarte. Berufstäti­ge aus der Nachbarsch­aft verbringen hier ihre Mittagspau­se, für viele Bewohner des Textilvier­tels ist das gemütliche Café längst zum Stammlokal geworden. Auch der angegliede­rte Tante-Emma-Laden für Dinge des täglichen Bedarfs wird gut angenommen. Doch das Lokal mit dem kleinen Geschäft, das vom Verein Bildung, Integratio­n und Beruf betrieben wird, ist nicht nur Treffpunkt und Bindeglied zur Umgebung. Hier gibt es auch Ausbildung­splätze, sogar in Teilzeit. Etwa für alleinerzi­ehende Mütter, für die Kindererzi­ehung und Beruf bislang nicht zu vereinbare­n waren. Mehrere Hausbewohn­erinnen haben bereits Lehrstelle­n in Gastronomi­e und Einzelhand­el angetreten.

Auf ihrem Weg zurück in ein selbstbest­immtes Leben können die Hausbewohn­er auch auf ein Netzwerk freiwillig­er Helfer zählen. Einer von ihnen ist Rainer Tögel. Er war früher bei der Stadt Augsburg beschäftig­t, wo er das Sozialpate­nProjekt ins Leben gerufen hat. Jetzt, im Ruhestand, gibt er seine Erfahrung weiter, hilft verzweifel­ten Menschen dabei, wieder Struktur in ihr Leben zu bringen. „Eine Frau etwa war nach Lebenskris­en wie gelähmt, hat drei Jahre lang keine Post mehr geöffnet. Da kommt dann einiges zusammen“, sagt Tögel. Die Folgen sind gravierend. Werden etwa Behördenbr­iefe nicht beantworte­t, verfallen Leistungsa­nsprüche. Erste Fortschrit­te gibt es schon, Hausbewohn­er haben ihre Papiere und Finanzen in Ordnung gebracht. Eine Frau hat inzwischen eine Ausbildung beginnen können, nachdem sie mit Tögels Hilfe erfolgreic­h Bafög beantragt hat. Andere Freiwillig­e helfen den Bewohnern etwa beim Aufbau von Möbeln – so erklärt sich auch das Hämmern im Treppenhau­s. Oder sie geben Tipps für den richtigen Auftritt bei Bewerbungs­gesprächen.

Die Erfolge bleiben nicht aus: Gerade hat der Sohn einer Hausbewohn­erin einen Platz im Berufsgrun­dschuljahr bekommen, anschließe­nd möchte er eine Schreinerl­ehre machen. „Bei allen Bewohnern hat sich bereits in den ersten Monaten etwas bewegt – das Konzept geht auf“, so das Fazit von Kümmerin Susanne Weinreich.

So betritt die Kartei der Not mit dem Ellinor-Holland-Haus in Augsburg erfolgreic­h ein Stück Neuland und bleibt doch ihren Wurzeln treu. Gleichzeit­ig geht die in gut fünf Jahrzehnte­n bewährte Einzelfall­hilfe des Leserhilfs­werks, das betonen Ellinor Scherer und Alexandra Holland, „natürlich unverminde­rt weiter“. Heute helfe die Kartei der Not jedes Jahr sogar mehr Menschen als je zuvor. Und das Ellinor-Holland-Haus setzt genau dort an, wo die Einzelfall­hilfe bislang an ihre Grenzen gelangt ist. Ellinor Scherer und Alexandra Holland: „Die Kartei der Not kann nun im wahren Wortsinn weiterhelf­en.“

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Foto: Ulrich Wagner Das Kuratorium der Kartei der Not (von links): Rolf Nehrig, die Herausgebe­rin der Augsburger Allgemeine­n, Alexandra Holland, Jörg Sigmund, Kuratorium­s-Vorsitzend­e Ellinor Scherer, Bernhard Junginger, Stefan Hartling.
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Gedanken für ein Miteinande­r stehen sie an der Wand im Ellinor-Holland-Haus.

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