Augsburger Allgemeine (Land West)
Volle Dröhnung Enthaltsamkeit
Wir suchen und wir fliehen vor ihm: Der Rausch gilt als das Freiheitsversprechen unserer Zeit – aber ohne Verzicht gibt es ihn nicht / Von Marcel Rother
Schon die Griechen wussten: Das Leben ist ein Kampf zwischen Logos und Eros
Wir feiern Partys, trinken Alkohol, machen die Nacht im Klub zum Tag. Wir stürzen uns von Klippen, drücken aufs Gaspedal und berauschen uns an Sex und Konsum. Einerseits. Andererseits suchen wir die Stille, machen Urlaub im Kloster und entspannen in der Natur. Wir fasten, entgiften unseren Körper und schätzen den Zustand der Nüchternheit.
Rausch gehört zum Menschsein: Die Tasse Espresso am Morgen, die Zigarette danach, der Tanz, die Musik, die Drogen – die Liste der legalen und illegalen Rauschmittel ist lang, die Kulturgeschichte des Rausches noch länger. Allein die Tradition des Bierbrauens lässt sich über die mittelalterlichen Klöster bis hin zu den Ägyptern vor 6000 Jahren verfolgen. Feuchtfröhliche Abende sind quasi Teil unserer DNA. Der Wiener Lebemann und Philosophieprofessor Robert Pfaller geht sogar noch weiter: Er sieht in dem Genuss von Alkohol die Auflehnung gegen die gegenwärtige Kontrollgesellschaft, die vor allem Arbeit und Verbote kenne. Im Rausch liegt die Freiheit, die im Gesundheitswahn verloren gehe.
Demgegenüber steht die Nüchternheit. Sie leitet sich von dem lateinischen Wort „nocturnus“ab, das so viel wie nächtlich bedeutet und dessen Ursprung vermutlich ebenfalls in den Klöstern liegt. Mönche bezeichneten damit den Zustand des Menschen in der Morgendämmerung, als er noch nichts gegessen und getrunken hat – die Bedeutung „nicht betrunken“kam erst später dazu. Übertragen auf einen geistigen Zustand liegt der Reiz der Nüchternheit in der Klarheit des Bewusstseins. Es geht um die Frage, was von einem übrig bleibt, wenn alle störenden Einflüsse wegfallen.
Um das herauszufinden, zieht es immer mehr Menschen in Klöster. Während der sonntägliche Gottesdienstbesuch erheblich an Reiz eingebüßt hat, ist es bei Klöstern gerade umgekehrt. Eine Umfrage der Deutschen Ordensobernkonferenz aus dem Jahr 2015 zeigt, dass allein 70 Klöster 180 000 Gäste aufnahmen. Die Besucher suchten vor allem zweierlei: Erholung und geistliche Erfahrung. Alte Spiritualpraktiken scheinen ein willkommenes Mittel zu sein, um dem Rausch des modernen Lebens zu entfliehen und zu sich zu finden. Meditation und Gebet als Weg zur inneren Mitte.
Einer, der regelmäßig an geistlichen Übungen – sogenannten Exerzitien – teilnimmt, ist Frank Beyersdörfer. Der zweifache Familienvater zieht sich jedes Jahr einmal zurück, unter anderem in das Exerzitienhaus St. Paulus in Leitershofen im Landkreis Augsburg. Für ihn sind die acht- bis zehntägigen Exerzitien ein Kontrastprogramm zu seinem Alltag. „Hier kann ich abschalten, bin weg von zu Hause und das Handy ist auch aus“, sagt der 49-Jährige. Das Ziel der Exerzitien, die aus Gebet, Meditation, Selbstreflexion und Gesprächen mit einem geistlichen Begleiter bestehen, beschreibt die langjährige Exerzitienbegleiterin, Kordula Wilhelm-Boos, von der katholischen Gemeinschaft Christlichen Lebens, so: „Es geht darum, innezuhalten, sich neu zu orientieren und zu fragen, was einem im Leben wirklich wichtig ist.“
Exerzitien und Klosterurlaube sind Teil einer Bewegung, die der Trendforscher Matthias Horx seit den neunziger Jahren beobachtet und deren Ursprung seiner Einschätzung nach in den modernen Lebensbedingungen liegt. „Wir alle sind überfordert, überinformiert, hysterisiert durch tausende von Impulsen, Gerüchten, Vermutungen, Meinungen, die in einem täglich medial um die Ohren gehauen werden.“Daher suchten die Menschen zunehmend nach Entspannung, emotionaler Ausgeglichenheit, informeller Selbstbestimmung und Konzentration auf das Wesentliche.
Dem Experten zufolge habe bei einigen schon immer das Bedürfnis nach Verlangsamung und Askese bestanden, durch die radikale Zunahme der Vernetzung durch das Internet sei nun jedoch auf breiter Front ein Bedürfnis nach Kulturtechniken entstanden, mit denen Menschen ihre innere Balance halten oder wiedererringen können.
Schon im christlichen Jahreskalender stehen Rausch und Nüchternheit in einem ständigen Wechsel. Ritualisierten Formen des Feierns wie die Feste Ostern, Pfingsten und Weihnachten gehen mit gottgegebener Selbstverständlichkeit Fastenzeiten voraus. Orgie, Exzess und Völlerei folgen auf Enthaltsamkeit, Maßhalten und Verzicht. Dabei geht es weniger um einen Kampf zwischen Lebensfreude und Genussfeindlichkeit, sondern um Rausch und Nüchternheit als zwei Seiten derselben Medaille.
Schon die Philosophen im antiken Griechenland haben zwischen den Prinzipien Eros und Logos unterschieden. Während Eros etwa für Liebe, Sinnlichkeit, Sexualität und Ekstase steht, bezeichnet Logos den Bereich von Verstand, Vernunft, Struktur und Ordnung. Auch Nietzsche sah die Welt – 2000 Jahre später – in einem ständigen Widerstreit zweier Prinzipien, die Handlungen der Menschen bestimmen. Während für ihn das Dionysische, benannt nach Dionysos, dem griechischen Gott des Weines, den Drang ins Ungebundene, Ausufernde und Rauschhafte verkörpert, steht das Apollinische, benannt nach Apollon, dem Gott des Lichts, für ein Streben nach Ordnung, Begrenzung und Maß.
Maßhalten im Sinne eines vorübergehenden Verzichts auf Alkohol, ist in der Fastenzeit zwischen Aschermittwoch und Ostern auch heute in Deutschland sehr beliebt. Einer Forsa-Studie zufolge hat jeder zweite Deutsche schon einmal gezielt für mehrere Wochen auf bestimmte Genussmittel oder Konsumgüter verzichtet – 70 Prozent der Befragten übrigens auf Alkohol.
Dem Alltag entfliehen wollen viele auch in der Natur. Das Motto vieler Großstädter lautet: Raus aufs Land und fern von den Zerstreuungen des hektischen Häusermolochs dem ursprünglichen Zustand der Einheit von Mensch und Natur nachspüren. Doch was, wenn die majestätische Größe der Berge einen langsam erdrückt, der Anblick des Meeres einen zum haltsuchenden Strandgut macht oder die unverschämt klare Waldluft Wehmut nach dem Duft von Regen auf Asphalt zwischen Häuserschluchten weckt? Dann ist es Zeit für die andere Seite der Medaille.
Denn am Ende ist es doch so: Sieben Tage die Woche ein Fünf-Gänge-Menü in einem Drei-SterneRestaurant ist genauso langweilig wie ein Feierabend, Wochenende oder Urlaub ohne Arbeit. Kurz: Die Dinge erhalten ihren Wert erst dadurch, dass sie nicht selbstverständlich sind. Oder mehr noch: durch ihr Gegenteil. So folgt auf die Anspannung die Entspannung, auf das Wachen der Schlaf und auf den Rausch die Nüchternheit – als natürlicher Rhythmus der Welt. Angesichts einer immer unübersichtlicheren Welt suchen immer mehr Menschen nach Angeboten, in denen sie abschalten und sich auf das Wesentliche besinnen können.
Eben so wie Frank Beyersdörfer in der Kapelle des Exerzitienhauses St. Paulus in Leitershofen im Landkreis Augsburg.