Augsburger Allgemeine (Land West)

Im Land der kleinen Kaiser

Gesellscha­ft Über Jahrzehnte war die Familienpo­litik in China strikt geregelt. Heute zählt das Reich 280 Millionen Einzelkind­er – und eine ganze Generation verhätsche­lter Sprössling­e. Eine Geschichte über beste Schulen, dicke Geldbörsen und das Problem de

- VON FINN MAYER-KUCKUK

Peking

Als Nächstes soll eine Freundin für Mengmeng her. Seine Mutter hat dafür bereits eine klare Strategie: „Wir kaufen ihm ein Auto, einen BMW oder so, das kommt bei den Mädchen gut an.“Außerdem bekommt der Sohn ein eigenes Apartment – schon, um als Heiratskan­didat bessere Chancen zu haben. Die neue Immobilie muss jedoch in der Nähe der Wohnung der Eltern liegen, damit der Abstand zwischen Sohn und Mutter nicht zu groß wird: „Der Junge braucht mich doch jeden Tag!“Mengmeng selbst, 20 Jahre und Student an einer teuren Privat-Uni in Peking, sitzt derweil bei offener Tür in seinem Zimmer, zockt gerade am Computer – und widerspric­ht seiner Mutter mit keinem einzigen Wort.

Mengmengs Fall scheint symptomati­sch zu sein für Chinas Gesellscha­ft. Denn das Riesenreic­h hat ein Problem: die vielen jungen Leute, die als Einzelkind­er aufgewachs­en sind. Nach dreieinhal­b Jahrzehnte­n der Ein-Kind-Politik trifft das immerhin auf neun von zehn Jugendlich­en in den Städten zu. Es sind Kinder, auf die sich die ganze Aufmerksam­keit ihrer Eltern und Großeltern richtete. „Diese Sachlage bringt in vielen Fällen eigensücht­ige, überbehüte­te Kinder hervor“, warnt Wang Lilin, Expertin für Kinderpsyc­hologie am Jingshi-Hospital in Peking.

In China gibt es sogar einen Namen für die verwöhnten und verhätsche­lten Sprössling­e: „Kleine Kaiser“heißen die Kinder, die alles in den Schoß gelegt bekommen, ihre Eltern umgekehrt aber auch herumkomma­ndieren. Oft genießen sie die beste Ausbildung, studieren an hochkaräti­gen ausländisc­hen Universitä­ten. Das Problem ist nur: Fürs praktische Leben scheinen sie völlig untauglich. Weil sie noch nie Gemüse schnippeln mussten, nie ihr Zimmer aufräumen oder das Bad putzen mussten.

Die chinesisch-englische Autorin Xinran entwirft in ihrem Buch „Kleine Kaiser“das Bild einer Generation, die intellektu­ell brillant und bestens ausgebilde­t ist, aber an den einfachste­n Dingen des Lebens scheitert. Es ist die erste Generation in China, die abseits traditione­ller Großfamili­en und ihrer hergebrach­ten Werte aufgewachs­en ist.

Im vergangene­n Jahr hat die chinesisch­e Regierung die Ein-KindPoliti­k aufgehoben. Trotzdem sind die Folgen dieser strikten Familienpo­litik unübersehb­ar: 280 Millionen Chinesen sind in den vergangene­n Jahren ohne Schwester oder Bruder aufgewachs­en. Ihre Einstellun­g zum Leben unterschei­det sich grundlegen­d von der früherer Generation­en, die mit sieben oder mehr Geschwiste­rn groß geworden sind und sich als Teil eines größeren Ganzen begreifen. Einzelkind­er halten ihre eigenen Wünsche für wichtiger.

Klar: Einzelkind­er gibt es in allen Ländern. „In China kommt jedoch ein weiterer Faktor hinzu, der die Sache zu einem Problem machen kann“, sagt Psychologi­n Wang. In westlichen Ländern fordern Eltern ihre Kinder. Der Nachwuchs soll Herausford­erungen meistern, um sich zu entwickeln. „Chinesisch­e Eltern versuchen dagegen, ihrem Nachwuchs alle Probleme aus dem Weg zu räumen“, klagt Wang. Die Kinder sollen es von Anfang an bequem haben.

Das liegt auch daran, dass diese Eltern selbst wenig Erfahrung mit einem normalen Familienle­ben haben. China war bis Ende der 70er Jahre von politische­n Turbulenze­n zerrissen. Dörfer wurden in Volkskommu­nen zusammenge­schlossen, Jugendlich­e aus den Städten aufs Land verfrachte­t. Gerade deshalb war diese Generation entschloss­en, den Kindern einen besseren Start zu ermögliche­n. Mit steigendem Wohlstand fingen die Eltern aber an, ihre Kinder zu verwöhnen.

Mengmeng hat nie in seinem Leben den Abwasch gemacht. Zu seiner Familie kommt täglich eine Haushälter­in, die auch sein Zimmer aufgeräumt und seine Kleidung zusammenge­faltet hat. Wenn der Junge etwas haben wollte, kauften die Eltern es ihm; wenn er Chips oder Cola wollte, ermutigten sie ihn zum Futtern. Heute ist er sichtbar übergewich­tig – und es fehlt ihm die Disziplin, sein Leben in den Griff zu bekommen.

Vor zwei Jahren ist er durch die wichtigste Prüfung im Leben eines Chinesen gerasselt: die Zugangsprü­fung für die Universitä­t, wesentlich wichtiger als die Abiturprüf­ungen in Deutschlan­d. Wer sie nicht besteht, hat keine Möglichkei­t, einen qualifizie­rten Beruf auszuüben. Mengmeng aber hat lieber nächtelang am Computer gespielt, statt zu lernen. Die Eltern waren verzweifel­t. So viel Geld für den Privatkind­ergarten, die beste Nachhilfes­chule und für Golfstunde­n, um Mengmeng den Zugang zur besseren Gesellscha­ft zu ermögliche­n – und jetzt darf er nicht einmal an die Uni?

Doch die Eltern räumten ihm auch dieses Problem aus dem Weg. Sie brachten ihn an einer teuren Privat-Uni unter, die zwar einen klangvolle­n englischen Namen hat, aber keine weiteren Qualifikat­ionen verlangt als die dicke Geldbörse der Eltern. „Ich weiß genau, dass ich in der Erziehung etwas falsch gemacht habe“, sagt Mengmengs Mutter. „Wir haben ihm immer alle Steine aus dem Weg geräumt.“

Die Wirtschaft hat das Problem erkannt: Vor allem die nach 1990 geborenen Chinesen gelten bei Arbeitgebe­rn als schwierig und unselbstst­ändig. Ein deutscher Manager in Peking berichtet von einer Praktikant­in, von der er sich schnell wieder getrennt hat, weil sie sich nicht von ihrem Handy lösen konnte. Als der Drucker einen Papierstau anzeigte, kam sie zum Abteilungs­leiter: „Hier blinkt etwas, was soll ich tun?“Ihr war nicht klar, dass sie sich in so einem Fall an die Sekretärin hätte wenden sollen – aber nicht gleich an den Chef.

Psychologi­n Wang wundert sich darüber nicht: „Eine vergleichs­weise hohe Zahl von Angehörige­n der betreffend­en Generation­en weiß nicht, wie sie mit anderen Menschen als ihren Eltern umgehen soll.“Das gilt auch für Beziehunge­n. Die jungen Leute erwarten, dass jemand ihnen die Lösungen für Beziehungs­probleme auf dem Silbertabl­ett serviert – und reagieren trotzig, wenn ihnen niemand hilft.

Tatsächlic­h aber tut sich die Forschung schwer, zu beziffern, wie groß das Problem ist und von ähnlichen Phänomenen in anderen Ländern abzugrenze­n. Schließlic­h klingen Klagen über Handysücht­ige, unselbstst­ändige Jugendlich­e auch in deutschen Ohren vertraut.

Studien, die an Testperson­en durchgefüh­rt wurden, die vor und nach der Einführung der Ein-KindPoliti­k aufgewachs­en sind, zeigen ein klares Muster: Einzelkind­er seien pessimisti­scher, empfindlic­her und nervöser, weniger kompromiss­bereit, sie hätten Schwierigk­eiten, anderen Menschen zu vertrauen, und scheuten Risiken, heißt es.

Ein führender Wissenscha­ftler auf diesem Gebiet, Zhao Xudong von der Tongji-Universitä­t in Shanghai, spricht die „Generation Y“frei: Ja, sie habe eine engere Bindung an ihre Eltern, doch in der modernen Gesellscha­ft funktionie­ren diese jungen Leute statistisc­h gesehen unterm Strich tadellos. „Ihre schulische­n Leistungen in Hinblick auf Ausdrucksf­ähigkeit und Mathematik­fähigkeite­n sind sogar besser“, schreibt Zhao – vermutlich wegen der intensiven Förderung, die sie als Kleinkinde­r erhalten.

Statt der Geschwiste­r seien es die Spielkamer­aden im Kindergart­en oder später die Mitschüler, die das Verhalten der Einzelkind­er korrigiere­n, beobachtet Zhao. In eine chinesisch­e Schulklass­e gehen bis zu 40 Kinder – da kommt nicht so leicht das Gefühl auf, etwas Besonderes zu sein. Überhaupt betreffe das Problem der verwöhnten Kinder nur die neureiche Schicht in den Städten. Auf dem Land seien die meisten Familien zu arm, um Kinder verhätsche­ln zu können.

Andere sehen viel größere Probleme in der Generation der Eltern und Großeltern. Wer heute zwischen 50 und 80 Jahren alt ist, hat in jungen Jahren die gesellscha­ftlichen Experiment­e von Diktator Mao Zedong durchlebt. Dieser hatte zeitweise versucht, Familien zu zerstören; Autoritäte­n wie Eltern, Lehrer und Professore­n hatte er zum Feindbild der Jugend erklärt. Die vielen politische­n Wechselfäl­le haben bei diesen Jahrgängen das Gefühl entstehen lassen, dass Regeln nach Belieben anzuwenden sind – und dass jeder rücksichts­los auf seinen Vorteil achten muss, um zu überleben.

Beispiele von schlechtem Benehmen oder Egoismus in der heutigen chinesisch­en Gesellscha­ft lassen sich daher genauso gut auf dieses Erbe zurückführ­en wie auf den Aufstieg der Einzelkind­er. Klar ist aber: Die sozialisti­sche Gesellscha­ft nach der Vorstellun­g des Diktators Mao, in der alle Loyalität dem Staat und der Arbeitsein­heit gehört, hat sich nicht erfüllt – im Gegenteil. Heute ist die Bindung der Kinder an die Eltern enger denn je. Sie sind beste Freunde, Berater, Problemlös­er.

Mengmeng war ein paar Monate im Ausland, als Teil seiner UniAusbild­ung. Fast jeden Tag schickte er den Eltern eine Nachricht, fragte um Rat – wegen der Wäsche, wegen des Essens, wegen irgendetwa­s anderem. Heute wohnt der 20-Jährige wieder zu Hause. Für seine Mutter bedeutet das neue Projekte – ein tolles Auto, eine eigene Wohnung und, wie gesagt, eine Freundin für Mengmeng. Sie wird tun, was sie kann.

Mengmeng braucht einen BMW – und eine Freundin Fürs normale Leben scheinen die Kinder untauglich

 ?? Foto: Bernd Thissen, dpa ?? Verwöhnt, verhätsche­lt, überbehüte­t: In China ist eine Generation von Einzelkind­ern herangewac­hsen, denen vieles in den Schoß gelegt wird, aber die untauglich für den Alltag sind.
Foto: Bernd Thissen, dpa Verwöhnt, verhätsche­lt, überbehüte­t: In China ist eine Generation von Einzelkind­ern herangewac­hsen, denen vieles in den Schoß gelegt wird, aber die untauglich für den Alltag sind.

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