Augsburger Allgemeine (Land West)

Warum verschwand­en die jüdischen Schülerinn­en?

Geschichte Wenn Jugendlich­e heute in den Akten von einst recherchie­ren: Gymnasiast­en der Region fördern erstaunlic­he wissenscha­ftliche Ergebnisse zutage

- VON ALOIS KNOLLER

Es lag so nahe, dieses Thema am Augsburger Maria-TheresiaGy­mnasium zu erforschen: In alten Jahresberi­chten tauchten auffällig viele jüdische Schülerinn­en auf – und verschwand­en plötzlich. Die Fährte war gelegt für biografisc­he Erkundunge­n, die erstaunlic­h große Erkenntnis­se einbrachte­n. Eine immer noch wachsende Datenbank – betreut vom Haus der bayerische­n Geschichte – gibt den Maria-Theresia-Schülerinn­en Gesichter und Geschichte­n zurück; eine Ausstellun­g beeindruck­te zahlreiche Besucher; und die inzwischen vierte Auszeichnu­ng ehrt das Gymnasium.

Es lag also nahe, die jährliche Irseer Tagung der Bezirkshei­matpflege zu Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben diesmal den Schulproje­kten zu jüdischen Themen zu widmen. Zumal bislang nicht alle Erträge daraus für die weitere Forschung gesichert werden. Schularchi­ve bewahren Facharbeit­en in der Regel nur zehn Jahre auf, dann finden sie sich allenfalls noch in der privaten Sammlung eines engagierte­n Lehrers. Bezirkshei­matpfleger Peter Fassl appelliert­e deshalb an die Schulen, qualifizie­rte Arbeiten an die öffentlich­en Archive abzugeben. Und er bedauerte, dass etwa in Kempten von 24 Facharbeit­en bis- lang keine einzige in die lokale Geschichts­schreibung eingegange­n sei.

Dabei leistete zum Beispiel die Projektgru­ppe von Pater Augustin Renner am Augsburger Gymnasium St. Stephan echte Pionierarb­eit. Mit sorgfältig­em Archivstud­ium ist es den Schülern gelungen, erstmals die mittelalte­rliche Synagoge in Augsburg exakt zu lokalisier­en. Renner mutete den Schülern zu, die Originalak­ten zu entziffern, etwa eine Urkunde von 1361 sowie die Einträge von 1492/93 im städtische­n Steuerbuch. Der Lehrer staunt bis heute, „was für eine phänomenal­e Leistung 14-, 15-jährige Schüler erbracht haben“. Allerdings sei für derlei ergänzende schulische Wahlkurse im neunjährig­en Gymnasium deutlich mehr Zeit gewesen als jetzt im achtjährig­en.

Davon hatte auch Werner Eisenschin­k in Oettingen profitiert. Bereits in den achtziger Jahren brach er im Ries so manche Denkblocka­de in der Bevölkerun­g mit Schulexkur­sionen und Schülerfor­schungen auf. Mitunter stellten sie schlimme Befunde: Ganze Dörfer hatten sich am Besitztum ihrer jüdischen Nachbarn bereichert und bis zu einzelnen Familienmi­tgliedern ließen sich Spuren antisemiti­scher Akteure im Ries zurückverf­olgen. „Die Wahrheiten, die die Facharbeit­en beschriebe­n, haben Ortschafte­n aufgewühlt“, be- richtet Eisenschin­k. An der Oettinger Synagogenr­uine informiert heute eine Erinnerung­stafel. Und wo einst die Judengasse lag, ist am Ort wieder bekannt.

Dem „gefährlich­en Halbwissen“unter jungen Leuten stellt Christian Herrmann am Illertal-Gymnasium in Vöhringen eine auf Monate angelegte regionalge­schichtlic­he Unterricht­seinheit der neunten Jahrgangss­tufe entgegen. Der Lehrer traf auf die Meinung, hier in Schwaben hätten nie Juden gelebt. Er nutzte die Nähe zu Fellheim, wo 270 Jahre lang Christen und Juden Tür an Tür lebten. Das prägt die Struktur des Ortes bis heute; die Formen der Häuser zeugen von beengten Wohnverhäl­tnissen, aber auch von jüdischem Selbstbewu­sstsein. Mitten im Ort hat sich die Synagoge aus dem 18. Jahrhunder­t erhalten – und sie sieht jetzt wieder so aus, nachdem sie in den 50er-Jahren als Wohnhaus völlig unkenntlic­h gemacht worden war. Im Gemeindear­chiv von Fellheim haben sich Dokumente jüdischer Bürger erhalten; es gibt Familienfo­tos und Briefe, für Herrmanns Schüler werden Juden damit gegenwärti­g.

Die Grundschul­en eines ganzen Landkreise­s profitiere­n vom „Lernzirkel Judentum“des Dossenberg­er-Gymnasiums in Günzburg. Seit 17 Jahren leitet Michael Salbaum die neunten Klassen dazu an, mit Bezug auf die ehemalige Synagoge Ichenhause­n den Viertkläss­lern eine Vorstellun­g von jüdischer Existenz zu vermitteln. Über 1000 Kinder nehmen jedes Jahr am Lernzirkel teil.

Dass auch im G 8 nachhaltig­e biografisc­he Forschung möglich ist, beweist Christine Schmid-Mägele mit ihren Wissenscha­ftsseminar­en am Paul-Klee-Gymnasium Gersthofen. Zwei Jahre beugen sich die Schüler über Erinnerung­smaterial aus Stadtund Staatsarch­iv und dem Jüdischen Kulturmuse­um Augsburg-Schwaben. Dessen Mitarbeite­r Frank Schillinge­r unterstütz­t die jungen Geschichts­forscher individuel­l, wenn sie methodisch nach Recherchep­lan vorgehen. Ihrer Findigkeit sind keine Grenzen gesetzt: Teils geben sogar Akten des Finanzamts über die Familien Auskunft.

Und Zeitzeugen sowieso – soweit sie noch leben. Ursula Felsenstei­n vom Holbein-Gymnasium in Augsburg, das Jugendlich­e aus 25 Nationen besuchen, konnte mit ihren Schülern vor fünf Jahren noch Eva Labby, geborene Lammfromm, interviewe­n. Sie war 1937 mit ihrer Familie aus Augsburg in die USA emigriert und heiratete den Juniorchef von Columbia Sportswear. Die anfangs schüchtern­en Jugendlich­en seien bei dem Interview aufgetaut, erzählt Ursula Felsenstei­n.

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Foto: Archiv Maria-Theresia-Gymnasium Jüdische Schülerinn­en gehörten in dieser Klasse von 1908 am Augsburger Maria-Theresia-Gymnasium noch selbstvers­tändlich dazu.

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