Augsburger Allgemeine (Land West)
Charakterkopf redet sich in Rage
Sigi Zimmerschied schimpft in Neusäß über Krücken fürs Gehirn
Neusäß
Der Charakterkopf auf leerer Bühne braucht nichts als sein Hirn, das gnadenlos seziert und seine Sprache, die mit niederbayerischer Urgewalt über den Zuhörer hereinbricht. Bei Sigi Zimmerschied ist bequemes Zurücklehnen nicht drin. Das hatte sein Publikum in der Neusässer Stadthalle auch nicht erwartet und spitzte die Ohren um keinen der scharf pointierten Sätze zu verpassen.
Roter Faden im Programm „Tendenz steigend“ist der Pegelstand des Inn, der Zimmerschieds Heimatstadt Passau mal idyllisch italienisch dastehen lässt, aber auch als verheerende Wasser- und Schlammlawine durch die Straßen schießen kann. Wie der sanfte Wellenschlag bei Niedrigwasser schwappte Zimmerschied mit einem frohen Lied auf den Lippen auf die Bühne. Er hieß ausreisewillige Amerikaner und schwule Russen willkommen, warb um Verständnis für die Dreier-WG des „liebreizenden Weihbischofs“von Passau und pries seine Multi-Kulti-Familie samt des im Reagenzglas gezeugten Nelson Elton Maria und des räudigen, aus Rumänien geretteten Straßenhundes Caligula.
Dann geht es schnell: das Innwasser steigt und mit ihm die Schlagzahl der beißenden Analysen. Die menschliche Tauglichkeit für das Hochwasser des Lebens misst der Meister der verblüffenden Mimik am App-Indikator. Smartphonebesitzer mit weniger als zehn Apps auf dem Telefon sind noch zu eigenständigen Bewegungen fähig, ab 40 Apps dient das Gerät als moderne Variante des Behindertenausweises.
Mal reimt sich Zimmerschied hinterlistig arglos durch die Welt und versetzt sein Publikum kurz in Entspannung, schon haut er ätzend in die offenen Wunden kaum verheilter Traumata. Unheile Familien und unheilige Re- ligionen sind Lieblingsthemen des Urvaters der Bissigkeit. Vor 63 Jahren im nicht gerade für seine Weltläufigkeit bekannten Passau geboren, als Ministrant und Schüler im Humanistischen Gymnasium ordentlich katholisch sozialisiert, hatte er schon nach seinem ersten 1975 mit Bruno Jonas konzipierten Programm „Die Himmelskonferenz“die Justiz am Hals. Wegen Gotteslästerung wurden sie angeklagt, zur Verurteilung kam es nicht.
In den vierzig Jahren seither hat er sich nie einen Maulkorb verpassen lassen und ist in der Wortwahl nicht kleinlich. Derbe Beleidigungen würden in der Region ohnehin zum alltäglichen Vokabular gehören, lässt er dahingehende Kritik von sich abperlen und sorgte mit Auftritten wie „Betondeppen“oder „Passauereien“immer wieder für Aufruhr. Er sagte einmal, die Energie aus unzähligen Rosenkränzen, Keuschheitsgelübden, Schlägen und Verweisen musste sich irgendwie entladen. Und das tut sie mit Verve bis heute ohne jeden Einschlag von Altersmilde.
In Neusäß kamen ZimmerschiedNeulinge und langjährige Fans auf ihre Kosten. Nicht wenige verfolgen den Kabarettisten und Schauspieler seit Jahrzehnten und sind begeistert vom nicht nachlassenden Biss des Altmeisters. Scharfer Verstand, schnelle Auffassungsgabe und Toleranz für eine Semantik, die es in sich hat, waren gefragt. Denn Harmonie mag der Kabarettist nicht, sagte Zimmerschied.
Und belegte dieses ureigene Credo knapp zwei Stunden lang bevor er unter kräftigem Applaus – aber ohne viel Firlefanz – wieder verschwand.