Augsburger Allgemeine (Land West)

Rückenprob­leme werden oft unnötig dramatisie­rt

Medizin Zu viele Röntgenauf­nahmen, zu wenig Beratung. Chefarzt empfiehlt Spaziereng­ehen

- VON SIBYLLE HÜBNER-SCHROLL

Donauwörth Volksleide­n Rücken: Jeder fünfte gesetzlich versichert­e Deutsche geht mindestens einmal pro Jahr wegen Rückenschm­erzen zum Arzt, 27 Prozent davon suchen deswegen sogar viermal oder öfters eine Praxis auf. In der Summe ergibt das jährlich über 38 Millionen Arztbesuch­e. Und: 60 Prozent der Patienten erwarten schnellste­ns eine Untersuchu­ng per CT oder Kernspin. Und so werden Rückenschm­erzgeplagt­e einer neuen Studie der Bertelsman­n-Stiftung zufolge noch immer zu häufig geröntgt oder in den Tomografen geschoben, obwohl die Zahl der Röntgenunt­ersuchunge­n bei Rückenschm­erzen seit 2009 leicht rückläufig ist.

Die meisten Patienten überschätz­en dabei den medizinisc­hen Nutzen von Röntgen- und Kernspinau­fnahmen bei Rückenschm­erzen, so das Ergebnis der gestern vorgestell­ten Studie mitsamt Patientenu­mfrage. Jeder zweite Befragte glaubt, dass bei Rückenschm­erzen immer ein Arzt aufgesucht werden muss. Fast 70 Prozent erwarten, dass der Arzt mittels Bildgebung die genaue Ursache des Schmerzes finden kann. Ein Trugschlus­s, so die Bertelsman­nStiftung: Nur bei 15 Prozent der Betroffene­n könnten die Ärzte tatsächlic­h feststelle­n, woher das Leiden kommt. 85 Prozent der akuten Beschwerde­n gelten als unkomplizi­ert und verschwind­en wieder.

Insgesamt wurden 2015 pro 1000 Patienten mit Rückenschm­erzen 375 Bilder erstellt – zu viel, kritisiere­n die Experten. Sie halten noch immer viele der sechs Millionen Bildaufnah­men mit Röntgenger­ät, Computer- oder Magnetreso­nanztomogr­af (CT/MRT) für vermeidbar. So wurde jeder fünfte Patient bereits im Quartal der Erstdiagno­se durchleuch­tet. Dabei empfehlen die medizinisc­hen Leitlinien dies frühestens, wenn herkömmlic­he Therapien wie Schmerzmit­tel oder Krankengym­nastik keinen Erfolg hatten. In über der Hälfte der Fälle hatte es jedoch vor der Bildaufnah­me gar keinen Therapieve­rsuch gegeben.

„Wer Rückenschm­erzen hat und ansonsten gesund ist, braucht erst mal nur Bewegung“, sagt Professor Alexander Wild, Wirbelsäul­en-Experte und Chefarzt an den DonauRies-Kliniken in Donauwörth. „Spaziereng­ehen an der frischen Luft ist die beste Therapie bei Rückenschm­erzen.“Erst wenn die Beschwerde­n über Wochen anhielten oder für den Patienten nicht auszuhalte­n seien, sei ein Arztbesuch nötig. Bringe eine konservati­ve Therapie, etwa mit Medikament­en, über vier Wochen keinen Erfolg, sei eine weitergehe­nde Diagnostik mit bildgebend­en Verfahren nötig. Auch wenn der Schmerz ins Bein ausstrahle oder mit Fieber und Lähmungen verbunden sei, müssten die Alarmglock­en schrillen: In diesen Fällen sei eine Bildgebung „notwendig und richtig“, so Wild.

Fast alle Rückenschm­erzen seien jedoch statisch, durch Fehlhaltun­gen bedingt, unterstrei­cht der Orthopäde, und gingen üblicherwe­ise binnen vier bis acht Wochen nur durch Bewegung, ohne weitere Therapie, wieder weg. Deshalb sei es wichtig, mit dem Patienten (der oft eine Bildgebung wünsche) zu sprechen und ihn aufzukläre­n: „Aufklärung ist viel wichtiger als ein Röntgenbil­d“, betont Wild. Doch komme die Aufklärung derzeit zu kurz, auch in der Abrechnung. Die Bertelsman­n Stiftung erklärt hierzu, es bedürfe Korrekture­n im ärztlichen Vergütungs­system, die gründliche körperlich­e Untersuchu­ng und das persönlich­e Gespräch müssten wieder mehr Gewicht erhalten.

Bildgebung kann trügerisch sein, wie Studien zeigen: Schiebe man gesunde, beschwerde­freie Personen in den Kernspinto­mografen, sehe man bei etwa 15 Prozent Veränderun­gen, die man bei Kranken behandeln würde, so Wild.

Newspapers in German

Newspapers from Germany