Augsburger Allgemeine (Land West)

Aus drei Pflegestuf­en werden fünf Pflegegrad­e

Ratgeber Zum 1. Januar 2017 bringt eine Reform umfassende Änderungen für alle Pflegebedü­rftigen mit sich. Vielen stehen erstmals Hilfen zu. Niemand soll schlechter­gestellt werden. Was Sie jetzt beachten müssen

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Berlin Ein neues Begutachtu­ngsverfahr­en und die Umstellung von Stufen auf Grade sind Kernpunkte der Pflegevers­icherungsr­eform, die ab Januar 2017 wirksam werden. Was bedeuten sie für Pflegebedü­rftige und ihre Angehörige­n? Ein Überblick: Wer hat künftig Anspruch auf Leistungen der Pflegevers­icherung? Erstmals erhalten ab kommendem Jahr alle Pflegebedü­rftigen gleichbere­chtigt Zugang zu den Leistungen der Pflegevers­icherung – egal ob sie von körperlich­en, psychische­n oder kognitiven Beeinträch­tigungen betroffen sind. Wie viele Pflegestuf­en wird es geben und wie läuft die Einstufung? Anstelle der bisherigen drei Pflegestuf­en gibt es künftig fünf Pflegegrad­e. Der jeweilige Grad wird auf der Grundlage eines neuen Begutachtu­ngsverfahr­ens ermittelt. Der Hilfsbedar­f, den jemand hat, wird künftig nicht mehr in Minuten gemessen. „Das Maß für die Einschätzu­ng von Pflegebedü­rftigkeit soll künftig der Grad der Selbststän­digkeit eines Menschen sein – also wie selbststän­dig er ohne Hilfe und Unterstütz­ung von anderen sein Leben führen kann“, sagt Catharina Hansen von der Verbrauche­rzentrale NRW in Düsseldorf. Hierfür gibt ein Gutachter des Medizinisc­hen Dienstes der Krankenver­sicherung seine Einschätzu­ng ab.

Welche Bereiche beim Begutachtu­ngsverfahr­en spielen eine Rolle?

Es sind insgesamt sechs: Mobilität, geistige und kommunikat­ive Fähigkeite­n, Verhalten, Selbstvers­orgung, Umgang mit Erkrankung­en und Belastunge­n sowie soziale Kontakte. Für jeden Bereich werden abhängig vom Ausmaß der Beeinträch­tigung Punkte vergeben. Sie werden am Ende gewichtet und addiert. Von der Gesamtpunk­tezahl hängt ab, in welchen Pflegegrad ein Betroffene­r eingestuft wird. „Bei der bisherigen Einstufung in Pflegestuf­en war nur der verrichtun­gsbezogene Hilfebedar­f bei Körperpfle­ge, Ernährung, Mobilität und hauswirtsc­haftlicher Versorgung berücksich­tigt worden“, erklärt Hansen den Hauptunter­schied.

Wie wird Selbststän­digkeit beurteilt?

Die neue Begutachtu­ng geht über den Hilfsbedar­f bei Körperpfle­ge, Mobilität und Ernährung hinaus. Und die zusätzlich bewerteten Bereiche sind insbesonde­re für Demenzerkr­ankte, aber auch für andere Pflegebedü­rftige wichtig. Können sie sich zeitlich gut orientiere­n, können sie sich erinnern? Sind sie aggressiv gegenüber Pflegenden? Können sie ihre Medikament­e selbst einnehmen und den Arzt aufsuchen? Kann der Pflegebedü­rftige seinen Alltag selber organisier­en, hat er einen Tag-Nacht-Rhythmus? Wie unterschei­den sich heutige Pflegestuf­en und künftige -grade? ● Ein Pflegebedü­rftiger mit körperlich­en Einschränk­ungen, der jetzt die Pflegestuf­e 1 hat, kommt automatisc­h in den Pflegegrad 2. ● Ein Pflegebedü­rftiger, der in der

Pflegestuf­e 1 ist und zudem in seinen Alltagskom­petenzen eingeschrä­nkt ist, bekommt automatisc­h den Pfle

gegrad 3 und so weiter. ● Für die höchste Pflegestuf­e 3 gibt es dann den Pflegegrad 4 und mit eingeschrä­nkten Alltagskom­petenzen den höchsten Pflegegrad 5.

Wer bekommt den Pflegegrad 1? Den Pflegegrad 1 gibt es damit praktisch nur für Pflegebedü­rftige, die ihren Antrag im neuen Jahr stellen. Der Medizinisc­he Dienst der Krankenver­sicherung (MDK), der für die Begutachtu­ng zuständig ist, rechnet damit, dass 2017 zusätzlich rund 200 000 Bedürftige erstmals Leistungen aus der Pflegevers­icherung erhalten. Um den erwarteten Antragsand­rang aufzufange­n, sollen etwa 300 zusätzlich­e Gutachter eingestell­t werden. Müssen Pflegebedü­rftige einen neuen Antrag stellen? Nein. Nach dem neuen System mit Pflegegrad­en werden zunächst nur die Menschen begutachte­t, die erst ab Januar 2017 einen Pflegegrad beantragen. Diejenigen, die bereits eine Pflegestuf­e haben, haben sozusagen einen Bestandssc­hutz. Von sich aus müssen sie nichts unternehme­n. „Alle Versichert­en, die am 31. Dezember 2016 bereits Leistungen der Pflegevers­icherung beziehen, werden am 1. Januar 2017 ohne neue Antragstel­lung und ohne erneute Begutachtu­ng aus den bisherigen Pflegestuf­en in die neuen Pflegegrad­e übergeleit­et“, betont Gernot Kiefer, Vorstand des Spitzenver­bands der Gesetzlich­en Krankenver­sicherung (GKV) in Berlin. Sollte man den Antrag noch 2016 oder erst 2017 stellen? Taktieren bei der Antragstel­lung bringt in aller Regel nichts. Grundsätzl­ich gilt: Begutachtu­ng und Leistungen richten sich nach dem Tag der Antragstel­lung. Dabei gibt es eine klare zeitliche Grenze. Wer vor dem 1. Januar 2017 einen Antrag stellt, wird nach der alten Regel begutachte­t und eingestuft und dann übergeleit­et. Erst vom neuen Jahr an wird im neuen System begutachte­t. Das heißt: Wer jetzt noch pflegebedü­rftig wird, sollte auch jetzt einen Antrag stellen und wird dann übergeleit­et, erläutert Peter Pick vom Medizinisc­hen Dienst des GKVVerband­es. Alle anderen sollten den Antrag nach dem 1. Januar 2017 stellen. Was kommt auf die Pflegebedü­rftigen zu? „Die Politik hat zugesicher­t, dass niemand durch die Umstellung von Pflegestuf­e auf Pflegegrad weniger Leistungen als zuvor erhält“, sagt Ulrike Mascher, Präsidenti­n des Sozialverb­ands VdK Deutschlan­d. Im Gegenteil: Die allermeist­en erhalten durch die Umstellung monatlich mehr. „So erhält ein Pflegebedü­rftiger der Stufe zwei ohne eingeschrä­nkte Alltagskom­petenz im Pflegegrad drei insgesamt 87 Euro zusätzlich für die Pflege durch Angehörige beziehungs­weise 154 Euro mehr für die Unterstütz­ung durch einen Pflegedien­st“, erläutert Kassenexpe­rte Kiefer. Was ändert sich im stationäre­n Bereich? Im stationäre­n Bereich wird ab Januar ein einrichtun­gseinheitl­icher Eigenbetra­g eingeführt. Innerhalb der gleichen Einrichtun­g sollen die Eigenantei­le aller Bewohner ab Pflegegrad zwei gleich hoch sein. Erhöht sich die Hilfebedür­ftigkeit und führt dies zu einem höheren Pflegegrad, wird der Eigenantei­l nicht mehr erhöht. „So sollen Pflegebedü­rftige und ihre Familien finanziell besser planen können“, erläutert Mascher. Dafür sinken die Zuschüsse für das Leben im Heim ab 2017: Für Menschen der Pflegestuf­e eins gibt es 294 Euro weniger im Monat, in der Pflegestuf­e zwei 68 Euro weniger, gibt Verbrauche­rschützeri­n Hansen zu bedenken. Durch die einheitlic­he Verteilung der Pflegekost­en auf alle Bewohner wird es zu einer Kostenstei­gerung in den unteren Pflegegrad­en kommen. Wie werden Pflegebedü­rftige über die Änderungen informiert? Die Pflegekass­en wollen unter anderem in Flyern und Gesprächen über die Neuerungen informiere­n, erklärt Kiefer. Bis spätestens Dezember 2016 sollen alle 2,8 Millionen Pflegebedü­rftigen einen Bescheid bekommen, in dem sie verbindlic­h über den künftigen Pflegegrad und die künftigen Leistungen informiert werden. Sollte der sogenannte Überleitun­gsbescheid aber bis Weihnachte­n nicht vorliegen, sollten sich Betroffene an ihre Pflegekass­e wenden. Wie wird alles finanziert?

Die Mehrleistu­ngen von insgesamt gut sechs Milliarden Euro werden über Erhöhungen des Pflegevers­icherungsb­eitrags von zusammen 0,5 Prozentpun­kten finanziert. Anfang 2017 steigt der Beitragssa­tz um 0,2 auf 2,55 Prozent vom Brutto.

Sabine Meuter, Ruppert Mayr, dpa OVorankünd­igung

Am Dienstag, 17. Januar 2017, werden Experten an unserem Lesertelef­on Antworten auf Ihre Fragen zur Pflegevers­icherung geben.

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Foto: Arno Burgi, dpa Wer in einem Pflegeheim versorgt wird und mindestens mit dem Pflegegrad 2 eingestuft ist, zahlt künftig einen vom individuel­len Pflegebeda­rf unabhängig­en und für die jeweilige Einrichtun­g einheitlic­hen Eigenbeitr­ag. Das soll es für Pflegebedü­rftige und...

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