Augsburger Allgemeine (Land West)

Kinderehen-Gesetz bringt Erdogan in Bedrängnis

Analyse Die Regierung muss ihre rückwirken­den Legalisier­ungs-Pläne nach Protesten der Opposition stoppen. Doch das Problem bleibt

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul

Dass die Opposition einmal einen Sieg über die konservati­ve Regierungs­partei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan verbuchen kann, hat in der Türkei mehr als Seltenheit­swert. Doch nun hat die türkische Regierung unter dem Eindruck heftiger Proteste ihren umstritten­en Gesetzentw­urf zum Thema Kinderehen zurückgezo­gen. Ministerpr­äsident Binali Yildirim erklärte, seine Regierung strebe jetzt eine Lösung im Konsens an, nachdem zuvor Erdogan diese Losung als Rückzugsig­nal ausgegeben hatte.

In türkischen Großstädte­n waren tausende Demonstran­ten auf die Straßen gegangen und protestier­ten gegen den zentralen Punkt des Vorhabens, Verurteilu­ngen wegen sexuellen Kindesmiss­brauchs rückwirken­d straffrei zu stellen, wenn der Täter das Opfer geheiratet hatte. Die Opposition geißelte den Vorstoß als Freibrief für Vergewalti­ger, sodass sich die AKP am Ende dem Verdacht, Kinderschä­nder schützen zu wollen, nicht aussetzen wollte. Dennoch wird das Thema trotz des Rückzugs des Gesetzentw­urfs auf der Tagesordnu­ng bleiben, denn das Problem in der Türkei ist zu groß und zu komplex.

Tatsächlic­h kann man der AKP vorwerfen, in ihren 14 Jahren an der Regierung zu wenig gegen den Missstand der Kinderehen getan zu haben. Allerdings waren die Zustände in Zeiten der Vorgängerr­egierungen noch schlimmer. Und die zuletzt aufgeheizt­e Stimmung hilft den tausenden Betroffene­n nicht: Laut türkischem Statistika­mt sind bei fünf Prozent aller Eheschließ­ungen im Land die Bräute minderjähr­ig – 31000 Fälle vergangene­s Jahr. Derzeit ist eine richterlic­he Sondergene­hmigung nötig, wenn die Ehefrau jünger ist als 18 Jahre. Dazu kommt eine hohe Dunkelziff­er, weil viele Kinderehen von islamische­n Geistliche­n ohne Standesamt geschlosse­n werden. Pro Jahr bringen rund 22000 türkische Mädchen im Alter zwischen 13 und 17 Jahren ein Kind zur Welt – siebenmal mehr als in der ähnlich bevölkerun­gsstarken Bundesrepu­blik.

Auch in Deutschlan­d wird nach der Flüchtling­swelle zurzeit über den richtigen rechtliche­n Umgang mit islamische­n Kinderehen debattiert. SPD-Justizmini­ster Heiko Maass schlug Ausnahmen beim Eheverbot unter 18 Jahren vor und begründet dies mit dem Hinweis auf das Wohl der Kinder, die in diesen Ehen geboren worden sind. Ähnlich argumentie­rt die AKP: Natürlich sei es nicht richtig, wenn Mädchen unter 18 Jahren verheirate­t würden, sagt Maas’ türkischer Kollege Bekir Bozdag. Aber für die Tatsache, dass es Kinderehen trotz des gesetzlich­en Verbots gebe, dürften nicht ausgerechn­et die jungen Ehefrauen und Mütter bestraft werden, deren – oft jugendlich­en – Männer im Gefängnis sitzen, weil ihnen die Beziehung schon jetzt in der Türkei als Kindesmiss­brauch ausgelegt werde.

„Denkt doch auch einmal an uns“, rief eine junge Frau bei einer Demonstrat­ion für das AKP-Gesetz im nordtürkis­chen Tekirdag: Weil sie minderjähr­ig geheiratet habe, sitze ihr Mann im Gefängnis und sie mit ihrem behinderte­n Sohn mittellos auf der Straße. Landesweit wird die Zahl derartiger Fälle auf 3000 bis 4000 geschätzt, in denen Männer ins Gefängnis kamen und junge Frauen damit gestraft sind, dass sie nun mit kleinen Kindern alleine dasitzen.

Auch der über jeden Verdacht der Sympathie mit der Erdogan-Partei AKP erhabene Literatur-Nobelpreis­träger Orhan Pamuk tritt dafür ein, die Realität solcher Ehen nicht zu verleugnen, und widmete dem Thema seinen jüngsten Roman. Die Opposition wäre deshalb in ihrer Kritik glaubwürdi­ger, wenn sie auch Gegenvorsc­hläge vorlegen würde. Sonst wird die Diskussion ein weiteres Beispiel dafür, warum die AKP auch nach 14 Jahren nach wie vor konkurrenz­los ist in der türkischen Politik. Sie kennt die Belange der vorwiegend ländlich geprägten und konservati­ven Türken – während die urbanen Säkularist­en abfällig auf das Landvolk herabblick­en. Auf den „Widerstand der armen und rückständi­gen Teile der Gesellscha­ft“habe die wohlhabend­e und prowestlic­he Elite der Türkei noch nie mit dem Versuch reagiert, die Menschen zu verstehen, schrieb Orhan Pamuk schon vor 15 Jahren. Daran hat sich bis heute auch in anderen Streitthem­en wenig geändert.

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