Augsburger Allgemeine (Land West)
Kinderehen-Gesetz bringt Erdogan in Bedrängnis
Analyse Die Regierung muss ihre rückwirkenden Legalisierungs-Pläne nach Protesten der Opposition stoppen. Doch das Problem bleibt
Istanbul
Dass die Opposition einmal einen Sieg über die konservative Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan verbuchen kann, hat in der Türkei mehr als Seltenheitswert. Doch nun hat die türkische Regierung unter dem Eindruck heftiger Proteste ihren umstrittenen Gesetzentwurf zum Thema Kinderehen zurückgezogen. Ministerpräsident Binali Yildirim erklärte, seine Regierung strebe jetzt eine Lösung im Konsens an, nachdem zuvor Erdogan diese Losung als Rückzugsignal ausgegeben hatte.
In türkischen Großstädten waren tausende Demonstranten auf die Straßen gegangen und protestierten gegen den zentralen Punkt des Vorhabens, Verurteilungen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs rückwirkend straffrei zu stellen, wenn der Täter das Opfer geheiratet hatte. Die Opposition geißelte den Vorstoß als Freibrief für Vergewaltiger, sodass sich die AKP am Ende dem Verdacht, Kinderschänder schützen zu wollen, nicht aussetzen wollte. Dennoch wird das Thema trotz des Rückzugs des Gesetzentwurfs auf der Tagesordnung bleiben, denn das Problem in der Türkei ist zu groß und zu komplex.
Tatsächlich kann man der AKP vorwerfen, in ihren 14 Jahren an der Regierung zu wenig gegen den Missstand der Kinderehen getan zu haben. Allerdings waren die Zustände in Zeiten der Vorgängerregierungen noch schlimmer. Und die zuletzt aufgeheizte Stimmung hilft den tausenden Betroffenen nicht: Laut türkischem Statistikamt sind bei fünf Prozent aller Eheschließungen im Land die Bräute minderjährig – 31000 Fälle vergangenes Jahr. Derzeit ist eine richterliche Sondergenehmigung nötig, wenn die Ehefrau jünger ist als 18 Jahre. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer, weil viele Kinderehen von islamischen Geistlichen ohne Standesamt geschlossen werden. Pro Jahr bringen rund 22000 türkische Mädchen im Alter zwischen 13 und 17 Jahren ein Kind zur Welt – siebenmal mehr als in der ähnlich bevölkerungsstarken Bundesrepublik.
Auch in Deutschland wird nach der Flüchtlingswelle zurzeit über den richtigen rechtlichen Umgang mit islamischen Kinderehen debattiert. SPD-Justizminister Heiko Maass schlug Ausnahmen beim Eheverbot unter 18 Jahren vor und begründet dies mit dem Hinweis auf das Wohl der Kinder, die in diesen Ehen geboren worden sind. Ähnlich argumentiert die AKP: Natürlich sei es nicht richtig, wenn Mädchen unter 18 Jahren verheiratet würden, sagt Maas’ türkischer Kollege Bekir Bozdag. Aber für die Tatsache, dass es Kinderehen trotz des gesetzlichen Verbots gebe, dürften nicht ausgerechnet die jungen Ehefrauen und Mütter bestraft werden, deren – oft jugendlichen – Männer im Gefängnis sitzen, weil ihnen die Beziehung schon jetzt in der Türkei als Kindesmissbrauch ausgelegt werde.
„Denkt doch auch einmal an uns“, rief eine junge Frau bei einer Demonstration für das AKP-Gesetz im nordtürkischen Tekirdag: Weil sie minderjährig geheiratet habe, sitze ihr Mann im Gefängnis und sie mit ihrem behinderten Sohn mittellos auf der Straße. Landesweit wird die Zahl derartiger Fälle auf 3000 bis 4000 geschätzt, in denen Männer ins Gefängnis kamen und junge Frauen damit gestraft sind, dass sie nun mit kleinen Kindern alleine dasitzen.
Auch der über jeden Verdacht der Sympathie mit der Erdogan-Partei AKP erhabene Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk tritt dafür ein, die Realität solcher Ehen nicht zu verleugnen, und widmete dem Thema seinen jüngsten Roman. Die Opposition wäre deshalb in ihrer Kritik glaubwürdiger, wenn sie auch Gegenvorschläge vorlegen würde. Sonst wird die Diskussion ein weiteres Beispiel dafür, warum die AKP auch nach 14 Jahren nach wie vor konkurrenzlos ist in der türkischen Politik. Sie kennt die Belange der vorwiegend ländlich geprägten und konservativen Türken – während die urbanen Säkularisten abfällig auf das Landvolk herabblicken. Auf den „Widerstand der armen und rückständigen Teile der Gesellschaft“habe die wohlhabende und prowestliche Elite der Türkei noch nie mit dem Versuch reagiert, die Menschen zu verstehen, schrieb Orhan Pamuk schon vor 15 Jahren. Daran hat sich bis heute auch in anderen Streitthemen wenig geändert.