Augsburger Allgemeine (Land West)
Wir herzen und wir schlachten sie
Gesellschaft Das Verhältnis vom Mensch zum Tier wird immer widersprüchlicher. Sie sind Ding oder Liebling. Aber was tun? Eine Untersuchung mit Förster Wohlleben und Philosoph Precht
Die Zahlen aus dem Deutschen Fleischatlas sprechen eine deutliche Sprache. Es gibt immer weniger Tierbetriebe, aber mit immer größeren Zahlen an Tieren. Beispiel Schwein: Im Jahr 2001 hatten 115500 Betriebe durchschnittlich 226 Tiere; 2015 waren es nur noch 25700 Betriebe, aber mit 1076 Schweinen. Beispiel Geflügel: 2001 hatten 100800 Betriebe durchschnittlich 1091 Tiere; 2015 waren es nur noch 65 600 Betriebe, aber mit durchschnittlich 2841 Tieren. Der Trend geht zum Megastall.
Und hin zu immer mehr Fleischproduktion in Deutschland fürs Ausland. 1991 wurden noch 1310 Tonnen Fleisch exportiert, 2014 bereits 4290 Tonnen. Der hiesige Verbrauch ist im gleichen Zeitraum zurückgegangen: von 6750 auf 5580 Tonnen. Denn die Zahl der Deutschen, die umdenken, wächst stetig. 2015 waren bereits 7,8 Millionen Menschen Vegetarier und 900000 Veganer. Eine erste kleine Schizophrenie also: Das Land weitet die Produktion aus, während die Bürger den Konsum einschränken – wachsende Geschäfte der Fleischindustrie bei wachsenden Bedenken der Menschen. Wenn die Moral den einzelnen Deutschen hemmt, hemmt das noch lange nicht das Geld, das international fließt.
Aber Moral? Kann man von einem Gesinnungswandel sprechen, wenn doch der Deutsche mit immer noch 85 Kilo pro Kopf im Jahr weiter zu den größten Fleischfressern der Welt gehört? Gleichzeitig jedenfalls ist dieses Land spitze, wenn es um die Tierliebe geht. Das zeigt sich darin, dass in mehr als jedem dritten deutschen Haushalt (36 Prozent) mindestens ein Tier lebt. Angekurbelt vor allem vom Trend zu Luxusprodukten erreicht der Markt rund ums „Heimtier“einen Umsatz von über vier Milliarden Euro jährlich.
So nimmt die große Schizophrenie in unsrem Verhältnis zum Tier Gestalt an: einerseits das in immer größeren Massen als Produkt gezüchtete und geschlachtete Ding – andererseits der individuell gehätschelte Liebling. Aber kommt nicht zumindest für unseren Kulturkreis eine traditionelle Ordnung in das Ganze – mögen die Chinesen essen, was sie wollen! –, wenn man die Geschöpfe aufteilt, in Nutztiere wie etwa Schweine und Geflügel hier und in Haustiere wie Hunde, Katzen und Meerschweinchen dort?
Gerade dagegen wendet sich ein Buch, das in Deutschland seit Monaten ein Bestseller ist. Es heißt „Das Seelenleben der Tiere“(Ludwig, 240 S., 19,99 ¤) und stammt von Peter Wohlleben, dem Förster aus der Eifel, der zuvor mit „Das geheime Leben der Bäume“einen Volltreffer gelandet hat. Wohlleben erzählt darin etwa von der Lernfähigkeit des Mastschweins, der Verträumtheit der Fruchtfliege, dem Mut der Hirschkuh und dem Lebensgenuss der Bienen-Drohnen. Geschickt und eindringlich kombiniert er die Schilderungen seines eigenen, unmittelbaren Erlebens mit den Ergebnissen vieler Forschungsstudien, die ja auch immer wieder die Intelligenz und das Sozialverhalten gerade solcher Tiere nachweisen, die in die Kategorie Nutzvieh fallen könnten. Und der Förster erreicht dadurch nicht nur, dass die Willkürlichkeit der Unterscheidung zum Haustier offenkundig wird. Er verringert auch weiter den Abstand zwischen Mensch und Tier bis hin zur Berührung, zur Überschneidung unter den Geschöpfen.
Frei nach dem bereits über 40 Jahre alten und für die Bewusstseinsphilosophie richtungsweisenden Aufsatz von Thomas Nagel „What is it like to be a Bat?“fragt Wohlleben nicht nach der Fledermaus, sondern: „Was geht in Rüsselkäfern vor?“Die Antwort ist in beiden Fällen, dass wir es nicht wissen können. Aber wenn wir es uns durch unser menschliches Deuten verständlich zu machen versuchen, verschwinden die kategorischen Unterschiede zu unserem Verhalten zusehends. Zumal, da die Forschung begründete Zweifel hegt, ob denn der Mensch in Wille und Handeln so frei ist, wie er meint.
Wenn Wildschweine, die in Frankreich leben, sobald sie Jagdhörner hören, durch die Rhône auf die Schweizer Seite schwimmen, wo die Jagd verboten ist, dann können sie sich offenbar erinnern und vernünftig handeln. Wohlleben: „Es ist kein schöner Gedanke, dass große Teile unserer Tierwelt traumatisiert um uns herum leben.“Und was er von all den wachsenden Fleischfa- Werk heißt „Tiere denken“(Goldmann, 512 S., 22,99 ¤) und verspricht nicht weniger als „eine neue Tierethik“. Precht zeigt zunächst, wie sich unser Verhältnis zum Mitgeschöpf erst im Lauf der Geschichte so weit entwickelt hat, dass es uns immer mehr zum Ding wurde. Ein fatales Missverständnis mit brutalen Folgen, die inzwischen jedem, der es sehen wolle, durch Dokumentationen über den Alltag in der Fleischindustrie zugänglich seien.
Der Philosoph fasst die für seine Mitgeschöpfe so tödliche Hybris des Menschen in die Formel: „Es gibt zwei Kategorien von Tieren. Die eine glaubt, dass es zwei Kategorien von Tieren gibt, und die andere leidet darunter.“Der Mensch hebt sich heraus und macht Würde und Wert der anderen Lebewesen so für sich verfügbar. Auch gesetzlich, für die Forschung, wo die meisten Tiere sterben, weil solche Versuche vorgeschrieben sind. Aber Precht bläst nicht zur moralischen Revolution. Er fordert keine Ver- und Gebote, wie es philosophische Denker vor ihm taten, Albert Schweizer mit seinem Plädoyer für eine unantastbare Würde des Tieres und Peter Singer, der am Hausschwein nachgewiesen hatte, dass es über die Intelligenz eines fünfjährigen Menschen verfüge, und forderte, dass es darum auch die gleichen Rechte haben sollte.
Precht setzt nicht auf eine Änderung durch Vernunft. Der Mensch sei zum moralischen Fortschritt fähig, aber dadurch, dass er Probleme zu sehen und zu empfinden lerne. So verändere sich seine Intuition, nach der er anders zu handeln beginne. Der Philosoph setzt auf eine Evolution durch die Entwicklung von Sensibilität für Tiere: Wir müssten die „Reichweite des Mitgefühls stärker auf Tiere ausweiten“. Denn eigentlich sei der heutige Umgang „nicht mit unseren Vorstellungen von Moral, Liberalität und Sensibilität vereinbar“. Und: „Definieren wir unsere heutige Kultur nicht gerade dadurch, reines Instinktverhalten und barbarische Moralvorstellungen überwunden zu haben?“
So bliebe denen, die bereits den moralischen Blick gewonnen haben: 1. die Aufgabe, andere für das Richtige zu sensibilisieren; 2. die Hoffnung, dass diese Einstellung sich dann allmählich in der Gesellschaft durchsetzt und so auch die Politik zum Handeln bringt. Zur gesunden Ernährung seien wir heute schon nicht mehr auf das Tier angewiesen und seien es in etwa zehn Jahren erst recht nicht mehr. Dann, meint der Denker, sei die Entwicklung des völlig tierfreien „Kulturfleischs“ausgereift und massentauglich. Falls die Deutschen mitgehen, bleibt nur die Frage, ob das die deutsche Industrie auch anficht? Denn weltweit wird der Fleischbedarf aller Voraussicht nach weiter steigen.