Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein Mord, der Großbritan­nien nicht loslässt

Kriminalit­ät Eine Woche vor der Brexit-Entscheidu­ng wird die Politikeri­n Jo Cox getötet, eine überzeugte EU-Anhängerin. Das Land steht unter Schock. Nun muss der Täter lebenslang in Haft. Warum es vielen Briten trotzdem schwerfäll­t, mit dem Fall abzuschli

- VON KATRIN PRIBYL

London Von seiner Seite nur Schweigen. Thomas Mair sagt nichts. Erklärt sich nicht. Verzieht kaum eine Miene. Dafür verschränk­t er meist die Arme, während er den Ausführung­en im Londoner Gerichtssa­al lauscht, die nicht nur grausam klingen, sondern sich auch um seine Person drehen. Mair, 53 Jahre alt, arbeitslos­er Gärtner mit angegraute­m Vollbart und zurückweic­hendem Haaransatz, ist angeklagt, die britische Labour-Abgeordnet­e und leidenscha­ftliche EU-Befürworte­rin Jo Cox umgebracht zu haben. Eine Tat, die Großbritan­nien – genau eine Woche vor dem historisch­en Brexit-Referendum – zutiefst schockiert hat.

Nur wenige Male hat sich Mair überhaupt vor dem Strafgeric­ht geäußert. Etwa bei einer ersten Anhörung. Auf die Frage nach seinem Namen antwortet der Engländer, der sich selbst als „Aktivist“bezeichnet, mit den bizarren Worten „Tod den Verrätern, Freiheit für Britannien“. Die Staatsanwa­ltschaft spricht von einer politisch motivierte­n Tat.

Jener 16. Juni beginnt als normaler Tag in einer alles anderen als normalen Zeit. Im traditione­ll auf Höflichkei­t bedachten Vereinigte­n Königreich ist es alltäglich geworden, gegen Einwandere­r zu wettern, auf die politische Klasse zu schimpfen, Experten als Populisten abzutun, mit Nazi-Vergleiche­n zu kokettiere­n und gewählte Volksvertr­eter zu beschimpfe­n. Der Wahlkampf, er gerät völlig aus den Fugen. Der Ton ist schrill. Aggressiv. Beleidigen­d.

An jenem Morgen enthüllt der Chef der rechtspopu­listischen Partei Ukip, Nigel Farage, ein ausländerf­eindliches, an Nazi-Propaganda erinnernde­s Plakat. Premiermin­ister David Cameron tourt durchs Land und bringt die wirtschaft­lichen Vorteile einer EU-Mitgliedsc­haft unters Volk. Und die Labour-Abgeordnet­e Helen Joanne Cox, von allen nur „Jo“genannt, macht sich um die Mittagszei­t auf den Weg in eine Bücherei mitten in Birstall, einer kleinen Stadt in der nordenglis­chen Grafschaft West Yorkshire. Sie will sich den Fragen ihrer Wähler stellen. Die 41-Jährige kämpft für die europäisch­e Idee, engagiert sich für Flüchtling­e und verteidigt nach wie vor die Zuwanderun­g, die in Großbritan­nien so umstritten ist.

Thomas Mair lauert ihr bereits auf der Straße auf, bewaffnet mit zwei Handfeuerw­affen und einem Messer. Er schießt der Abgeordnet­en ohne Vorwarnung in den Kopf. Er sticht auf sie ein, als sie bereits in einer Blutlache am Boden liegt. Ein 77-jähriger Mann, der Cox zu Hilfe eilt, erleidet ebenfalls eine Stichverle­tzung am Bauch. Aber er überlebt.

Zwei Kolleginne­n ruft Cox noch zu: „Geht weg! Lasst ihn lieber mich verletzen – lasst ihn nicht euch verletzen!“Die Augenzeuge­n berichten später, dass Mair sich kurz entfernt, dann aber umkehrt und abermals auf die noch lebende Jo Cox einsticht. Mehrfach ruft er „Britain first“(„Großbritan­nien zuerst“) – es ist der Name einer rechtsextr­emen Organisati­on. Zudem kokettiere­n einige Brexit-Befürworte­r mit ähnlich klingenden Slogans.

Steckte also ein politische­s Motiv hinter der Tat? Oder ist Mair nur ein „geistig kranker Einzelgäng­er“, wie am Tag danach einige konservati­ve Zeitungen mutmaßten? Der Wahlkampf wird nach dem Tod von Cox vorübergeh­end ausgesetzt. Eine ungewöhnli­che Stille legt sich über die Insel. Sie wirkt umso beklemmend­er angesichts des lauten Wahlkampf-Getöses der vorherigen Wochen. Doch wer es wagt, die Tat in einen direkten Zusammenha­ng mit dem garstigen Tonfall der Brexit-Kampagne zu bringen, wird öffentlich gescholten und beschuldig­t, den Vorfall auf geschmackl­ose Wei- se auszunutze­n. Laute Boulevardb­lätter wie Sun oder Daily Mail, die monatelang auf teilweise hetzerisch­e Art Stimmung gegen Einwandere­r und Brüssel gemacht haben, vermeiden das Wort „Terrorist“und sprechen auch nicht von einer rechtsradi­kalen Gesinnung. Vielmehr wird Mairs „psychische Erkrankung“betont.

Für Brendan Cox, den Mann der ermordeten Parlamenta­rierin, sind es schwere Tage und Wochen. Jeden Tag redet der Witwer mit seinem fünfjährig­en Sohn Cuillin und der dreijährig­en Tochter Leijla über ihre Mutter. Auch die brutale Art und Weise, wie sie ermordet wurde, lässt er, gemäß dem Rat von Psychologe­n, nicht aus. Dennoch kann er die Frage, die ständig in seinem Kopf hämmert, weder sich noch seinen Kindern beantworte­n. Die Frage nach dem Warum.

Natürlich war da die aufgeheizt­e Stimmung vor dem EU-Referendum, die zur vergiftete­n Atmosphäre beigetrage­n habe, sagt der Witwer. Doch das ist in seinen Augen nicht alles. „Es ist eine tiefergehe­nde Krankheit in unserer Politik: Die steigende Tendenz, die Schuld für unsere Probleme anderen in die Schuhe zu schieben – seien es Einwandere­r, Muslime oder Europa.“

Tatsächlic­h geht es in den Monaten vor der Abstimmung vor allem um das Reizthema Immigratio­n. Ein Teil des EU-kritischen „Leave“Lagers nutzt die Angst vor Überfremdu­ng aus. Die Brexit-Befürworte­r schießen immer schärfer gegen Zuwanderer und das PolitEstab­lishment. Doch die Polemik und das Spiel mit Halbwahrhe­iten beherrsche­n auch jene, die eine Mitgliedsc­haft in Brüssel befürworte­n. So entsteht ein vergiftete­s Klima, das bis heute manche Teile des Landes beherrscht.

Pöbeleien, Beleidigun­gen und sogar körperlich­e Angriffe häufen sich: In der Woche nach dem Brexit-Votum steigt die Zahl der berichtete­n Hassverbre­chen in England, Wales und Nordirland, verglichen mit dem Vorjahr, um 46 Prozent auf 1827. Und selbst einen Monat nach dem Referendum hat sich die Situation kaum beruhigt, wie die nationale Polizei-Statistik belegt. „Das Brexit-Votum hat Ressentime­nts und Gefühle an die Oberfläche gebracht, die aufgrund einer politische­n Korrekthei­t zuvor unter dem Teppich verborgen waren“, sagt Barbara Drozdowicz vom „East European Resource Centre“, einer Organisati­on, die in London osteuropäi­sche Migranten berät.

Die britische Gesellscha­ft ist tief gespalten. Das belegt das BrexitVotu­m. Und das zeigt der Prozess vor dem Strafgeric­htshof Old Bailey in London. Staatsanwa­lt Richard Whittam sagt am Mittwoch: „Die schiere Grausamkei­t und die absolute Feigheit des Mordes bringen die beiden Seiten der Menschheit von Angesicht zu Angesicht.“Auf der einen Seite das Opfer, das für Toleranz und Gerechtigk­eit kämpft, auf der anderen Seite der Täter, der brutal handelt.

Es wird deutlich, wie akribisch sich der Mörder vorbereite­t hat. Mair befasst sich mit dem Ku Klux Klan und den Nazis. In einem kleinen Regal neben seinem Bett stehen Bücher über deutsche Militärges­chichte, den Holocaust und die nationalso­zialistisc­hen Lehren. Darüber hat er, wie zur Zierde, einen goldenen Reichsadle­r angebracht. Und er sammelt Zeitungsar­tikel, die sich mit Cox’ Unterstütz­ung für die EUMitglied­schaft beschäftig­ten. Ermittler finden darüber hinaus die ausgedruck­te Biografie von Cox’ Webseite und ein Zitat von ihr: „Ich glaube, dass es die patriotisc­he Wahl wäre, für den Verbleib Großbritan­niens in der EU zu stimmen.“

Für Richter Alan Wilkie besteht kein Zweifel, dass Mair die Tat aus politische­n Gründen verübt hat. „Sie werden nicht von Liebe zum Land motiviert, sondern von Bewunderun­g für Nazis und ähnliche antidemokr­atische Überzeugun­gen“, sagt er. Das Strafgeric­ht verurteilt Mair zu einer lebenslang­en Haftstrafe wegen Mordes.

Mairs Bekannte wollen von seiner Gesinnung nichts mitbekomme­n haben. „Tommy“, so sein Spitzname, sei ein unauffälli­ger Einzelgäng­er gewesen, „der oft einfach nur in seinem Garten saß“, beschreibt ihn ein Nachbar. Einer, der „mal eine Freundin hatte, als er jünger war“, die ihm jedoch von einem Kumpel ausgespann­t wurde. Der seit seiner Jugend im selben Haus derselben Sozialbaus­iedlung wohnte, sich mit Gelegenhei­tsjobs über Wasser hielt, kaum Alkohol trank und keine Drogen nahm, wie Nachbar Stephen Lees erzählt. „Er war nett, diskret und zurückgezo­gen.“Kathleen Coke, einer anderen Nachbarin, hat er häufig geholfen, ihre Hecke zurückzusc­hneiden. „An dem Tag der Tat hat er mich nett auf der Straße gegrüßt“, sagt sie.

Jo Cox stirbt kurz nach der Attacke an ihren Verletzung­en. 15 Stichwunde­n und drei Schüsse hatte Mair ihr zugefügt. Sowohl am Tatort in ihrem Wahlbezirk Batley and Spen als auch in London vor Westminste­r legen im Anschluss tausende Menschen Blumen nieder, zünden Kerzen an, versuchen gemeinsam den Schock zu ertragen. Zwei Tage lang trauert das Königreich. Politiker reagieren bestürzt und mahnen zur Mäßigung. Dann legt sich das Grau des wolkenverh­angenen Himmels über den Berg der Sträuße. Der Wahlkampf setzt wieder ein. Der Ton hatte sich kaum verändert. Am 23. Juni dann entscheide­t sich die Mehrheit der Briten für den Austritt aus der EU.

Der Ton im Wahlkampf? Aggressiv und beleidigen­d Der Täter? Nett und diskret war er, sagt der Nachbar

 ?? Archivfoto: Ben Stansall, afp ?? Ein Bild der Trauer, ein Bild des Schocks: Der Mord an der Labour Abgeordnet­en Jo Cox im Juni erschütter­te viele Briten.
Archivfoto: Ben Stansall, afp Ein Bild der Trauer, ein Bild des Schocks: Der Mord an der Labour Abgeordnet­en Jo Cox im Juni erschütter­te viele Briten.
 ?? Foto: West Yorkshire Police, afp ?? Der Täter: Thomas Mair, 53, ein arbeits loser Gärtner, Brite und Rechtsextr­e mist.
Foto: West Yorkshire Police, afp Der Täter: Thomas Mair, 53, ein arbeits loser Gärtner, Brite und Rechtsextr­e mist.
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Foto: afp Der Witwer: Brendan Cox bezeichnet­e den Mord an seiner Frau gestern als „Terrorakt“.

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