Augsburger Allgemeine (Land West)
Ein Schriftsteller – und Gastarbeiter
Künstlerkarrieren (7) Der Italiener Gino Chiellino, Wissenschaftler und ausgezeichneter Lyriker, hat sich die deutsche Sprache schreibend zur Heimat gemacht. Und Augsburg zum Zuhause
Augsburg
Als er hört, dass über ihn in unserer Serie über „Künstlerkarrieren“aus Schwaben geschrieben werden soll, muss Gino Chiellino lachen. Er, der Bauernjunge aus Kalabrien, der interkulturelle Literaturwissenschaftler und Spezialist für das Fremde, er, der Lyriker aus Italien – ein national ausstrahlender Künstler aus Schwaben?
Ja. Tatsächlich ist es so, dass der seit kurzem 70-jährige Gino Chiellino die Hälfte seines Lebens in Schwaben, genauer in Augsburg verbracht hat. Nach dem Studium der Soziologie und Italianistik an der römischen La-Sapienza-Universität, der Übersiedlung nach Deutschland und einigen Jahren an der Uni Gießen, wo er zusätzlich Germanistik studierte und über den Futurismus promovierte, kam er an die Augsburger Universität. Am dortigen Sprachenzentrum unterrichtete er Italienisch und Landeskunde; seine
Schreiben als das Einrichten in einer fremden Sprache
Habilitationsarbeit über Literatur im Kontext der Einwanderung – von Pirandello bis Böll – war 1993 bereits Resümee ausgiebiger Beschäftigung mit seinem Lebensthema und trug im Titel programmatisch eine Ortsbestimmung: „Am Ufer der Fremde“.
Als er in Augsburg anfing, war Gino Chiellino schon ein Dichter. Als junger „Gastarbeiter“– er betrachtet den Begriff als Ehrentitel, auch wenn er nicht in der Fabrik, sondern im akademischen Bereich arbeitete – hatte er begonnen, kurze Gedichte auf Deutsch zu verfassen, gleichsam Tagebuchnotizen, Erfahrungsberichte. Diese „Gelegenheitsgedichte“, wie er sie heute nennt, waren für ihn „der Versuch, sich in der fremden Sprache einzurichten.“
Zwei Lyrikbände sind so entstanden, „Mein fremder Alltag“und „Sehnsucht nach Sprache“, und sie erregten sofort Aufsehen ob ihrer knappen Form, ihrer starken Bildhaftigkeit, ihrer Sperrigkeit im Ausdruck. Frühe Gedichte wie „Verstummung“, „Sklavensprache“, „Heimat“und „Bahnhof“haben – neben Brecht oder Zuckmayer – sogar Eingang in Anthologien für den Schulunterricht gefunden. „In der der Bahnhöfe/wo das Warten für uns ein Zuhause ist/ sprechen wir mit jedem/wie auf dem Platz eines Dorfes.“
Danach folgten kontinuierliche Lyrik-Projekte und die Gedichtbände „Sich die Fremde nehmen“, „Landschaft aus Menschen und Tagen“und „Weil Rosa die Weberin“. 1987 erhielt Chiellino dafür den Adalbert-von-Chamisso-Preis zusammen mit seinem Freund Franco Biondi, einem interkulturellen Erzähler. Und 2003 konnte er eine Poetik-Dozentur an der Technischen Universität Dresden übernehmen.
Chiellinos Gedichte entstanden immer neben seiner wissenschaftlichen Erwerbsarbeit, meist frühmorgens nach einer kleinen Tasse Espresso – wenn seine Frau, eine Psychotherapeutin, und die drei Kinder gerade erst am Aufwa- chen waren. Der morgendlichen Kreativphase gingen freilich stets lange Vorbereitungszeiten voraus: „Ich beschäftige mich lang mit einer Idee, einem Bild, einem Klang.“In seiner Vorstellung sind Gedichte etwas Körperliches; darum spricht er sie sich immer wieder vor, „bis sie zu 90 Prozent fertig sind. Erst dann schreibe ich sie auf.“
Und immer ist Chiellinos Thema die Einwanderung. Er verwendet nicht den Begriff Migration, denn dieser ist ihm zu oberflächlich. „Da übernimmt weder das Land, das man verlässt, noch das Land, das einen aufnimmt, Verantwortung.“Er selbst hat ein Italien verlassen, das ihm keine Arbeit geben konnte, und er lebt in einem Deutschland, das ihm erst vor zehn Jahren einen Pass zustellte und dessen Sprache er erst erobern musste, um sich wohlfühlen zu könAnonymität nen. „Mit hundert und keiner Stimme/webe ich Linien in den Tag hinein.“
Wenn man fortgeht, verliere man die Einheit von Raum und Zeit, von Orten, dem Jahresablauf und Erlebnissen, sagt Chiellino. Aber man nehme auch viel mit, weiß der Dichter: „Alles, was ich vorher war, habe ich in die deutsche Sprache mit hineingenommen.“Vladimir Nabokov, Jorge Semprun und Joseph Conrad, die ebenfalls in eine neue Sprache einwanderten, waren für ihn wichtig als Wegweiser, mehr noch Erich Fried und Alfred Andersch. „Sie haben mich ermutigt, mich der deutschen Sprache anzuvertrauen.“
Daneben gibt es auch Menschen, die in Augsburg gute Weggefährten für Chiellino wurden: der im September verstorbene montenegrinische Maler Gjelosh Gjokaj, der Lehrer Mario Parisi aus Viterbo, der Galerist Martin Ziegelmayr, der ehemalige Leiter des Kulturhauses
Zur Lyrik ist nun ein Roman gekommen: „Der Engelfotograf“
Kresslesmühle, Hansi Ruile. Gemeinsame Projekte wie Ausstellungen, Bücher sowie der Aschermittwoch internationaler Künstler sind so entstanden. Chiellino ist also nicht nur in der deutschen Sprache, sondern auch in der Stadt Augsburg heimisch geworden, und zwar, ohne seine italienische Seite aufzugeben: „Im Jahr 60 meines Lebens/verliert sich meine Fremde in/einer Landschaft aus Menschen und Tagen.“Veröffentlicht hat er in renommierten Verlagen: Beck, Metzler, Malik, Hanser.
Mit seinem neuesten Projekt geht der Autor allerdings wieder zurück in das Italien seiner Kindheit. Sein erster Roman, „Der Engelfotograf“, erzählt – wiederum in starken lyrischen Bildern – von der Kindheit in Kalabrien und der Befreiung aus engen Verhältnissen.
Wie also steht es nun mit dem Künstler Gino Chiellino und Schwaben? „Ein schwäbischer Anteil lässt sich nicht mehr von meiner Identität trennen. Ob ich will oder nicht, ich gehöre zu Schwaben.“O
Radiosendung Über seinen neuen Roman „Der Engelfotograf“spricht Chiellino am Sonntag, 27. November, von 11 bis 11.30 Uhr in Bayern 2 Radio.